Breyten Breytenbach 1939 – 2024

Am Sonntag, den 24. November 2024, starb der südafrikanische Dichter und Essayist Breyten Breytenbach im Alter von 84 Jahren in seiner Wahlheimat Frankreich. Er war ein strikter Gegner der Apartheit-Politik, heiratete 1962 eine Französin vietnamesischem Ursprungs und wurde 1975, als er mit einem falschen Pass nach Südafrika zurückkehrte, festgenommen und anschließend zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Danach wurde er nach Frankreich abgeschoben. Erst mit der Aufhebung vieler rassistischer Gesetze (unter anderem auch des „Mixed Marriages Act“) entschloss sich der Dichter, der viele seiner Werke in Afrikaans veröffentlichte, zurück zu reisen.
Als ich im April 1994 die ersten freien Wahlen in Südafrika für den ORF mitverfolgte, wollte ich unbedingt auch mit Breytenbach sprechen. Ich bin ihm damals nachgejagt, diesem südafrikanischen Intellektuellen, Dichter, Maler und Anti-Apartheid-Aktivisten. Mein Aufenthalt in diesem Staat, in dem das weiße Apartheid-Regime durch den schwarzen Regierungschef Nelson Mandela abgelöst werden sollte, durfte nicht ohne ein Gespräch mit Breyten Breytenbach zu Ende gehen. Ich versuchte, mit ihm telefonisch Kontakt aufzunehmen, scheiterte jedoch kläglich. Irgendwie erfuhr ich, dass er sich in einem Hotel in Durban aufhielt, und dort mietete ich mich auch ein. Noch am ersten Abend schob ich ihm einen Zettel mit meiner Interview-Bitte unter die Zimmertür. Die Hartnäckigkeit machte sich belohnt. Er habe wenig Zeit, ließ er mich wissen, doch am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, könne er mich treffen.
Vieles von dem, was er mir damals erzählt hatte, trat tatsächlich ein, in einigen Punkten war er zu pessimistisch. Doch gerade 30 Jahre später erscheint dieses Gespräch besonders faszinierend.

TRUMP IST ZURÜCK. DAS ZITTERN BEGINNT

Der 45. Präsident der USA wird auch der 47.

Eine Tragödie für die USA

„Die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA ist nichts anderes als eine Tragödie für die amerikanische Republik.“ Dem ist wenig hinzuzufügen. Diese Beurteilung könnte von mir sein, ist es aber nicht. Sie stammt von David Remnick am Tag, als das Wahlergebnis feststand. Und er fuhr fort: „Es ist eine Tragödie für die Verfassung, und ein Triumpf jener Kräfte, die die Wünsche und Bedürfnisse der Amerikaner über die Interessen der Einwanderer stellen und ebenso der Kräfte, die Frauenfeindlichkeit, ein autoritäres Regierungssystem und Rassismus in den Vordergrund stellen.“ OK, David Remnick ist kein National-Konservativer, im Gegenteil, er ist der liberale Chefredakteur des amerikanischen Wochenmagazins The New Yorker. Oh, noch etwas habe ich vergessen: dieser Artikel erschien am 9. November 2016, also nach der ersten Wahl Donald Trumps. Man kann mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass die ersten Zeilen seines dieswöchigen Leitartikels nicht viel anders lauten werden. Am ehesten werden sie noch etwas schärfer, dunkler ausfallen. Mittlerweile sind die ersten Sätze im New Yorker nachzulesen: „Donald Trumps Rache. Der frühere Präsident kehrt ins Weisse Haus zurück, älter, weniger gehemmt und viel gefährlicher als je zuvor.“

Die Wähler haben ein schlechtes Gedächtnis

Dass Trump wiedergewählt wurde – nach einer vierjährigen Unterbrechung durch die Präsidentschaft von Joe Biden – fusst auf mehreren Faktoren. Erst einmal: die Mehrheit der Wähler, oder jedenfalls derer, die ihn gewählt haben, hat ein ziemlich schlechtes Gedächtnis, was seine erste Amtszeit betrifft. Vor allem die konservativen Wechselwähler, das ergab eine Studie im März dieses Jahres, wissen genau, warum sie Biden ablehnen, aber sie haben schon vergessen, was ihnen an Trump nicht gefallen hat. Auch die jetzige Jungwähler haben keine Ahnung, was sich in der Regierungszeit Trumps abgespielt hat: Er wollte er mit allen Mitteln die Krankenversicherung, die Obama eingeführt hatte, zugrunde richten, doch das gelang ihm nur teilweise. Dafür schaffte er alles, was mit Umweltverbesserung zu tun hatte, mit einem Federstrich ab. Und das schlimmste: er hat diskredidierte traditionelle Medien so sehr, dass „Fake News“ von einem Schimpfwort zu einem Alltagsbegriff wurde. Dazu kommt: die freundschaftliche, ja beinahe liebevolle Erwähnung des nordkoreanischen Diktators Kim Jong Un; dass Mexico – im Unterschied zu seinen Versprechen – natürlich den Grenzwall nicht bezahlt hat, den er errichtete, um die Immigranten fernzuhalten; dass er dem russischen Präsidenten Vladimir Putin mehr vertraute als dem amerikanischen Geheimdienst; dass er bei rechtsradikalen Ausschreitungen in Virginia von „sehr guten Menschen auf beiden Seiten“ sprach; dass er mitverantwortlich für den Sturm aufs Capitol war. Dass am Ende seiner Amtszeit kaum ein Regierungsmitglied, das er am Anfang ausgesucht hat, noch dabei war, haben auch schon fast alle vergessen. Für uns Europäer kam noch die völlig abwertende Haltung zur Europäischen Union hinzu, seine Drohung, die Amerikaner aus Europa abzuziehen. Und statt „America First“ galt für ihn bei Auslandsreisen immer „Trump First“: davon weiss vor allem Duško Markovič, der Präsident Montenegros, ein Lied zu singen. Er war es, den Donald Trump bei einem Brüssel-Besuch vor laufender Kamera grob zur Seite schob, nur damit er selbst in der ersten Reihe stehen konnte. Aus dem Pariser Klimaabkommen verabschiedete er sich rasch, auch aus dem Iran-Atom-Abkommen – so unter dem Motto: die Europäer sollen sehen, wie sie in diesen Bereichen ohne die Vereinigten Staaten zurechtkommen. Alles vergessen: ein kollektives Gedächtnis, das alle, oder jedenfalls die Mehrheit der Amerikaner teilen, ist im Zeitalter der Polarisierung und der sich gegenseitig bekämpfenden (sozialen) Medien kaum vorhanden. Das eizige, an das sie sich erinnern, ist, dass es ihnen finanziell damals besser gegangen ist. Ob das nun Trumps Verdienst war, oder er auf der Well geschwommen ist, die ihm sein Vorgänger Barack Obama hinterlassen hat, ist unbedeutend.

Ein „Entertainer“ im Weißen Haus

Zum Zweiten: Trump ist ein großartiger Medienmanipulator, ein „Entertainer“. Er weiss, wie man mit den bewegten Bildern umgeht, etwas, das vor ihm zum ersten Mal nur der kalifornische Schauspieler Ronald Reagan 1979/1980 und dann in den Jahren danach als US-Präsident bewiesen hatte. Das stärkste Bild, das von Trump in Erinnerung geblieben ist (auch wenn es durch noch so viele rhetorische Entgleisungen danach in den Schatten gestellt wurde), war seine erhobene Faust nach dem Schusswaffen-Anschlag am 13. Juli 2024 bei einer Wahlveranstaltung in Virginia. Damals hatte eine Kugel eines Attentäters sein rechtes Ohr gestreift, er ließ sich zu Boden fallen, raffte sich jedoch sogleich wieder auf, rief „Fight, fight, fight!“ (hinter ihm wehte eine riesige amerikanische Flagge) und wurde von Sicherheitsleuten vom Podium gezerrt. „Es war ein Zeichen Gottes, dass ich heute hier vor ihnen stehe,“ sagte Donald Trump in Anspielung auf das Attentat in seiner ersten Rede nachdem sein Sieg so gut wie feststand.
Ich würde freilich auch noch einwenden: nirgendwo fand sich so viel Heuchelei wie im Wahlkampf Trumps. Jedes einigermaßen ordinäre Schimpfwort wird normalerweise im US-TV ausgepiepst, doch der Präsidentschaftskandidat verwendete ununterbrochen derogatorische Bezeichnungen für seine Gegenspieler und vielfach auch gegenüber jenen Bevölkerungsgruppen, die er für seinen Siegeszug ja auch auf seiner Seite haben musste – vorwiegend Einwanderer aus Mittel- und Südamerika, manchmal auch die Afro-Amerikaner und gelegentlich auch Frauen. Egal. Er hat die Mehrheit der Wahlmänner-Stimmen und diesmal auch die Mehrheit der Bevölkerung erzielt.

Schuld sind die Demokraten

Wie konnte es so weit kommen? Noch nie hat im amerikanischen Wahlkampf die Partei des Präsidenten so spät einen Spitzenkandidaten aufgestellt, oder im konkreten Fall: ausgewechselt. Die Auseinandersetzung um die Spitzenposition im Staat beginnt in den USA mindestens eineinhalb Jahre vor dem eigentlichen Wahltermin. Für die Demokraten stand fest, dass ihr Kandidat der amtierende Präsident Joe Biden sein wird. In einigen Medien wurde zwar die Frage ventiliert, ob Biden nicht zu alt für das Amt sei, nicht jetzt, aber zur Mitte oder gegen Ende seiner zweiten Amtszeit, wo er dann schon Mitte achtzig sein würde. Doch diese Fragen blieben Theorie hinter vorgehaltener Hand. Bis, ja, bis zum 27. Juni 2024. An diesem Abend zeigte sich der wahre (Gesundheits-)Zustand Joe Bidens. Er war nicht mehr in der Lage, kohärente Sätze zu bilden, einfache Fragen zu beantworten, oder seinem Gegenspieler Trump Kontra zu geben – ein Bild, das ich von ihm schon im November 2023 gezeichnet hatte und das mich zur Ansicht führte, Biden würde seine Kandidatur frühzeitig zurücklegen. Der Termin – alles andere als frühzeitig – kam dann am 21. Juli 2024: „…im besten Interesse seiner Partei und seines Landes“ habe er beschlossen, kein weiteres Mal das Amt des Präsidenten der USA anzustreben. Der Rest ist dann sozusagen Geschichte: seine Vizepräsidentin Kamala Harris wurde in einem Blitzverfahren zur neuen Kandidatin bestimmt, nach Hillary Clinton die zweite Frau, aber die erste Farbige, die sich in die Schlacht warf. Und, wie zu erwarten war, von Donald Trump mit den bösartigsten Beleidigungen („dumm“, „verrückt“, „kriminell“, „geistig zurückgeblieben“, „irr“, „Kommunistin“, „Marxistin“, etc.) beworfen wurde. Ganz generell betrachtet ist es offenbar für die Mehrheit der Amerikaner schwer vorstellbar, dass vom Oval Office aus eine Frau, noch dazu eine Farbige, die Geschicke des Landes oder gar der Welt bestimmt.

Dunkle Zeiten

Was kommt also jetzt auf uns zu? Dunkle Zeiten! Für uns Europäer besonders interessant: Wird er, so wie schon in seiner ersten Amtszeit, auch diesmal versuchen, die Europäische Union zu spalten. Ungarns Viktor Orban hat er ohnehin auf seiner Seite, wird ihm Donald Tusk aus Polen nun auch folgen. Frankreich und Deutschland sind (innenpolitisch) so schwach, dass von dort auch wenig Widerstand zu erwarten ist. Und besonders: Auf welche Weise wird er den Krieg in der Ukraine – wie er es im Wahlkampf verkündete – in einem Monat beenden? Wie anders kann das geschehen, als dass er sich mit Vladimir Putin, den er gelegentlich als seinen Freund bezeichnet, darauf einigt, dass alles, was Russland in der Ukraine besetzt hat, behalten darf. Dass also die Ukraine einen beträchtlichen Teil seines Territoriums dem Aggressor überlässt.

„Diktator – wenn auch nur für einen Tag!“

Erfahrene Beobachter des neugewählten Präsidenten warnen vor allem vor seiner Irrationalität. Daher sind Vorhersagen über das, was er umsetzen wird und kann, nur mit Vorsicht zu treffen. Immer wieder wiederholte er seine Ankündigung, dass er am ersten Tag nach seiner Wahl (gemeint war wohl nach seiner Amtseinführung) ein Diktator sein möchte, „just for one day!“ Auch wenn das die Verfassung nicht hergibt, vieles liegt doch in seiner Macht. Wird er tatsächlich seine Gegner festnehmen und ins Gefängnis werfen lassen, wie er das androhte? Wird er tatsächlich Millionen von illegalen Immigranten zusammentreiben und über die Grenze bringen lassen? Wie soll das technisch vor sich gehen? Werden Spitzel die Polizei informieren und die Einwanderer, die sich irgendwo in ihrer Nähe versteckt haben, den Behörden verraten? Gehen die USA dann jenem Zustand entgegen, den Deutschland und Österreich (und dann auch andere Staaten Europas) in den Dreissiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erlebt haben? Wo hunderttausende Juden in Transportwaggons gepfercht und danach in Konzentrationslager geführt wurden? Ach, werden jetzt viele einwenden, das sind (waren) ja nur Sprüche des Wahlkämpfers Trump, es wird ja nie so heiss gegessen, wie gekocht wird. Doch in seiner ersten Ansprache fiel auch der entscheidende Satz: „Promises made – promises kept!“ – Also ich werde meine Versprechen halten. Das betrifft natürlich auch seine Androhung, seine Feinde vor Gericht zu stellen. Wer das nun genau ist und wie das vor sich gehen kann, darauf hat er sich nicht festgelegt. Doch man kann davon ausgehen, dass nun große Angst in diesen Kreisen herrscht.

Ein Spielzimmer ohne Erwachsene (und ohne Opposition)

Darüber hinaus gibt es noch einen wesentlichen Unterschied zu seiner vorigen Amtszeit: es gibt keine Erwachsene mehr im Spielzimmer von Donald Trump. Zu viele seiner ehemaligen Mitarbeiter haben sich – geradezu verächtlich – von ihm abgewandt, bis hin zu seinem früheren Stabschef, der ihn zuletzt sogar einen „Faschisten“ genannt hat. Jetzt kann sich Trump auf die Mehrheit berufen, die die Republikanische Partei auch im Senat haben wird und er außerdem nur noch von Ja-Sagern umgeben sein wird, die alles umsetzen werden, was er ihnen befiehlt. Von „checks and balances“ bleibt nicht mehr viel übrig – auch der Senat wird von Republikanern beherrscht, der Oberste Gerichtshof ist in seiner Hand, die etablierten Medien, längst völlig diskreditiert von ihm und seinen Leuten, spielen nur noch eine geringe Rolle. Trump hat alle Macht.
Eine schreckliche Vorstellung.

Ich schliesse mit den Worten des US-Historikers John Meacham. Er schrieb nach der Wahl Trumps: „Ich sehe ihn als einen Fehltritt in unserer Geschichte – als einen Mann, dessen Verachtung für unsere verfassungsmäßige Demokratie ihn zu einer einzigartigen Gefahr für die Nation macht…Keine ähnliche Figur in der amerikanischen Geschichte hatte je einen so starken Griff auf so viele (Institutionen). Das anders zu sehen, verringert das Gefühl der Dringlichkeit, nach der dieser Augenblick verlangt.


Peter Turrini – ein literarischer Kraftlackel (Profil März 1973)


Die einen halten ihn für einen »Theater-Wilderer« (»Pfälzischer Merkur«), andere für einen »echten Dra- matiker« (»Frankfurter Neue Presse«). Er heißt Peter Turrini, ist der derzeit fruchtbarste österreichische Lite- rat (seine Beaumarchais-Bearbeitung »Der tollste Tag« hatte am 10. März im Volkstheater ostösterreichische Erstaufführung, wenige Tage vorher kam in Klagenfurt sein Ein-Personen-Stück »Kindsmord« zur Urauffüh- rung), ist 29 Jahre alt und, wie er sagt, von Beruf »Hei- matdichter«.
Dass er Heimatdichter geworden ist, verdankt Turrini unter anderem dem designierten Anti-PEN-Klub- Präsidenten H. C. Artmann. 1970 zeigte Turrini dem längst Arrivierten auf der Frankfurter Buchmesse das Manuskript der »rozznjogd« (profil 2/72), und dieser empfahl dem Literatur-Neuling, das Stück nach Wien an einen Verlag zu schicken. »Und wie ich nach Wien kom- me«, staunt Turrini noch heute, »war das Stück schon ans Volkstheater verkauft.«
Der Weg zum Publikumsschocker und Serienschrei- ber brutal-hintergründiger Stücke war verschlungen. In der Klagenfurter Handelsakademie wirkte Turrini als »permanenter Störfaktor« und hasste vor allem den Deutschunterricht und die Schul-Theaterbesuche im Klagenfurter Stadttheater. Anders als seine Kollegen wanderte Turrini nach der Handelsschulmatura nicht in eine Bank, sondern zur VÖEST. Dort »schöpfte« er täglich bei Temperaturen von 60 Grad am Hochofen. Wenngleich er jeden Abend wie tot einschlief, erwachte sein »kulturelles Be- wußtsein«. »Wenn man Tag und Nacht arbeitet«, erinnert sich Turrini an sein sechsmonatiges Gastspiel am Hochofen, »kommt einem das ganze Kulturangebot lächerlich vor«.
Dennoch beschloss der »Kraftlackel« (Turrini über Turrini), nicht Kultur für die Werktätigen zu machen, sondern verdingte sich vorerst als Barmixer, Büroma- schinen-Vertreter, Magazineur und Maître d’Hotel, landete schließlich beim Bundesheer, rebellierte dort aus »Hass gegen Institutionen«, indem er eine Meldung musikalisch verzierte und dafür ins Gefängnis kam. Die- se Gefängnis-Episode machte auf den Jung-Revoluzzer nachhaltigen Eindruck. Heute hält er in Gefängnissen Dichterlesungen, engagiert sich für einen humaneren Strafvollzug oder auch für einzelne Gesetzesbrecher.
Sein Protest gegen das »Eingesperrt-Sein« veranlasste ihn auch, seinen bislang bestbezahlten Posten (Angestell- ter im Frankfurter Büro der amerikanischen Werbeagen- tur J. W. Thompson) aufzugeben und nach Griechenland zu fliehen, wo er ein Jahr lang auf einer kleinen Insel in einer Kommune lebte und plötzlich zu schreiben begann. Im Land der Obristen schreibt Turrini »rozznjogd« und die »Erlebnisse in der Mundhöhle« (Turrini: »Ich hab’ das nie für Literatur gehalten«). Zwei Jahre später gab es bei der Uraufführung der »rozznjogd« im Wiener Volkstheater den größten Publikumsskandal, den das Theater je zu verzeichnen hatte« (»Hannoversche Rundschau«). Der »Spiegel« schrieb von einem »rüden Show-Stück, das mit Herz und Hosenschlitz ganz am Geschmack des Publikums orientiert ist«. Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« wiederum hatte »keinen Zweifel an Turrinis Talent«.
1971 entstand im Auftrag der Wiener Festwochen »Zero – Zero«, das vom Liebeswerben bis zum Werbe- slogan alle Sprachklischees beinhaltet. Da aber Publi- kum und Presse in ihrer Beurteilung jeweils noch eine Null beisteuerten, ging dieses »Kunst-Stück« (Turrini) unter. Turrini nicht: Sein nächstes Stück erschien schon ein halbes Jahr darauf, war aber in Titel und Thematik brisanter. »Ein Spiegelbild der Situation der Slowenen in Kärnten« nennt der Autor sein »Sauschlachten« – ein Schauspiel, in dem ein der menschlichen Sprache unkundiger, grunzender Bauernsohn denen zum Fraß vorge- worfen wird, die ihm nach Meinung seiner Verwandten ähnlich sind: den Schweinen. (Dass dieses »Sauschlach- ten« so weltfremd nicht ist, bewiesen ein paar Burschen im Kärntner Gurktal, die einen betrunkenen Knecht »zum Spaß« in den Schweinetrog warfen, wo ihm denn auch prompt die Genitalien abgebissen wurden. Das Ende Februar gefällte Urteil für die »Spaßvögel«: ein Monat Kerker wegen »versäumter Aufsichtspflicht«.)
In den Schweinetrog wollten auch viele Kulturhüter den Autor verfrachten: »Am besten wäre, man tät’ den Turrini den Schweindeln vorwerfen!« schrieb ein Ano- nymus an Turrini. Andere wiederum reagierten positiv. Hilde Spiel schwelgte in Superlativen: »Ausgezeichnet« sind seine Stücke, »begabt und vielseitig« ist er, und die Literatur-Lady konnte nicht umhin: »Er erinnert mich ir- gendwie an Heinrich Böll.« Dieser »angenehme Mensch, der so gute Kärntner Wurschtnudeln kocht« (Stammre- gisseur Bernd Fischerauer), ist für Friedrich Heer »ein junges, kämpferisches Talent, das echte Radikalität und waches, politisches Engagement zeigt«, kurzum »eine al- lerfreulichste Erscheinung«. Doch Turrini, stets schwarz gekleidet und mit einem bunten Seidenschal um den Hals, ist auch eitel, nervös, unsicher, gehemmt. In einem größeren Forum, bei Diskussionen wirkt er zwar souve- rän, sobald man ihm aber allein gegenübersitzt, wird er unsicher (»Hab ich das wirklich gesagt?«) und versucht, diese Unsicherheit hinter Zigarettenrauch zu verbergen. Die so verpestete Luft will er mit Hilfe einer ständig brennenden Kerze verbessern; gelüftet wird, wenn über- haupt, immer erst nach der Arbeit, und oft arbeitet er Tag und Nacht.
Eine Arbeit, die zudem das erste Zusammenspiel zwi- schen Turrini und dem Burgtheater bedeutet hätte, schei- terte jedoch, bevor sie noch richtig anfing. Die Altbühne wollte vom Jungautor eine wörtliche Übersetzung von Goldonis »Mirandolino«, er aber (»Ich bin ja kein Dolmetscher«) verweigerte dies.
Wie er es auch schon mit Beaumarchais’ »Tollem Tag« gemacht hatte. Turrinis Bearbeitung wurde Mitte März in Wien erstaufgeführt. Schon 1972 wischte die konser- vative Wochenzeitung »Christ und Welt« eventuelle Be- fürchtungen vom Tisch: »Wer glaubte, hier hätte einer abgeschrieben, weil er sich ausgeschrieben hat, der war auf dem Holzweg.« Aber auch die Wiener Zuschauer, die bis zur Pause das Stück für eine anspruchslose Komödie hielten, sahen sich nach dem Brötchenschmaus auf dem Holzweg. Turrini dreht nämlich den Mechanismus von Macht und Witz um, lässt Figaro den Grafen Almavi- va erdrosseln, nicht ohne ihm vorher noch schnell Jus- tizmord vorzuwerfen: »In Spanien wird die Gerechtig- keit abgetrieben!« Bei Turrini wurde letzte Woche auch in Klagenfurt abgetrieben. In seinem volkstümlichen Schauerdrama »Kindsmord« (einzige Darstellerin: Turrini-Ehefrau Corinna), das im großbürgerlichen Milieu spielt, geht es um den Paragraphen 144. Das Stück ist im »dramatischen Zentrum« auf der Wiener Freyung unter Mitwirkung von Schauspielern, Regisseuren und Psy- chologen entstanden. Turrini wirkt auch als »bezaubern- der Schauspieler« mit. Als das Volkstheater zwei Tage vor der Premiere der »Gräfin von Rathenau« wegen ei- ner Erkrankung eines Schauspielers, der noch dazu Itali- enisch sprechen musste und konnte, in arge Bedrängnis geriet, sprang Turrini ein und ließ die »Presse« nachher aufjubeln: »Ein Naturereignis überstrahlte den Abend.«
Dieses »Naturereignis« überstrahlt neuerdings auch die bisher immer etwas lustlos geführten Sitzungen des PEN-Klubs. Nach dem Abgang des monarchischen Mo- nokelträgers Lernet-Holenia wurde Peter Turrini in den Vorstand kooptiert. Zusammen mit Prof. Friedrich Heer versucht er, mehr Leben und mehr Literaten in diesen exklusiven Klub zu bringen, bislang freilich ohne sichtbaren Erfolg.

P.S. Das war mein erster großer Artikel für das Profil, für das ich von 1972 bis 1974 als freier Mitarbeiter arbeiten durfte.

Das TV-Duell Kamala Harris vs Donald Trump

Knapp zwei Monate vor den Präsidentschaftswahlen trafen sich Kamala Harris und Donald Trump zur einzigen TV-Konfrontation dieses Wahlkampfes.
Wer gut abschneidet, muss diesen Eindruck jetzt noch sieben Wochen pflegen, wer durchfällt, hat die gleiche Zeitspanne, um alles – oder zumindest einiges – wieder gutzumachen. Doch wie haben sich die Kandidaten geschlagen?

Eigentlich hätte heute Nacht Joe Biden gegen Donald Trump diskutieren sollen. Es wäre das zweite Aufeinandertreffen der beiden alten Männer gewesen, „wäre“ wenn nicht. Ja, wenn nicht das erste so desaströs für Biden ausgefallen wäre und danach alle sehr schnell ging: der Präsident zog sich zurück, seine Vizepräsidentin wurde aufs Schild gehoben. Von den zwei alten Männern blieb nur noch einer übrig. Donald Trump. Und ihm gegenüber stand nun eine zwanzig Jahre jüngere Frau.
Es dauerte nur wenige Minuten bis Donald Trump sein Lieblingsthema auftischte: die Einwanderung: „Sie – Harris – und Biden haben dazu beigetragen, dass Millionen von Menschen, aus Gefängnissen, aus Krankenanstalten, aus psychiatrischen Anstalten über die Grenze strömen, Terroristen, Drogenhändler, mit Gewalt Städte übernehmen und ein Chaos hinterlassen.“ Eigentlich wollten die beiden Moderatoren dieses Thema erst später aufgreifen, doch Trump will damit unbedingt stechen. Es gelingt ihm auch, weil Harris dazu kaum etwas zu sagen hat, lieber auf das Wirtschaftsprogramm – ihres und das „katastrophale“ ihres Gegners – zu sprechen kommt.

Viele Themen, wenig konkretes

Nächstes Thema „Abtreibung“ – Trump wirft den Demokraten vor, Babies im neunten Monat, nach der Geburt, „hinrichten“ zu wollen, Kamala Harris’ Vizepräsidentschaftskandidat Tim Walz habe gesagt „es sei in Ordnung, ein Baby nach dem 9. Monat umzubringen“. Nur durch die weise Entscheidung von sechs Richtern des Obersten Gerichtshofs ist es nun den einzelnen Bundesstaaten überlassen, wie mit diesem Problem umgegangen wird. Harris schlägt zurück: Natürlich sei das wieder eine Lüge des Gegenkandidaten, es sei eine Beleidigung für Frauen, ihnen vorzuwerfen, eine Abtreibung im 9. Monat zu verlangen.
Trump kommt auf sein Lieblingsthema zurück: die Einwanderung. Wer geglaubt hat, es kann nicht tiefer gehen, wird eines Besseren belehrt. Trump wirft den Immigranten vor, Hunde, Katzen und andere Haustiere zu töten und zu essen – egal wo sie sind, die armen Tiere sind vor ihnen nicht sicher. Harris kann nur lachen. Das macht sie übrigens gerne und oft – gelegentlich führt sie auch ihre Hand ans Kinn und sieht Trump, kopfschüttelnd, ungläubig an.
Keine Antwort bekommt Moderator David Muir von Trump auf die Frage, ob er, angesichts der gewalttätigen Vorfälle am 6. Jänner 2021 (als ein wütender Mob das Capitol stürmte) irgendetwas bedauere. Selbst als die Frage wiederholt wird, reagiert der frühere Präsident mit seinem Lieblingshinweis, was gegen die Millionen Eindringlinge getan wird, die über die Grenze strömen.

Trump ist wütend, hasserfüllt

Nach einer Stunde ist eines klar: Trump verkörpert den wütenden, bösartigen, hasserfüllten, mit Lügen und Übertreibungen um sich werfenden Kandidaten, der sein Land während seiner Amtszeit als eines von Milch und Honig fliessenden bezeichnet. Harris schlägt gelegentlich hart gegen Trump zurück („Sie lieben Diktatoren, sie sind eine Schande!“) versucht aber einigermassen ausgleichend zu bleiben und nicht ständig die Vergangenheit neu aufzurollen.
Auch die Ukraine wird diskutiert: Trump wiederholt sein Mantra, unter ihm hätte der Krieg nie begonnen, jetzt würde er den Krieg in 24 Stunden beenden „Ich würde Putin anrufen, ich würde Selensky anrufen, und das Sterben von Millionen Menschen würde sofort aufhören. Und die Europäer würden mehr zahlen als wir…“
Harris hat eine Antwort parat: „Wir müssen unsere Freunde unterstützen und nicht unsere Feinde, wie es Trump mit den Diktatoren tut. Schauen Sie nur, wie er mit den Taliban umgegangen ist – er hat sie sogar nach Camp David eingeladen, diesen historisch so bedeutenden Ort.“

Im Schlusswort verweist Kamala Harris neuerlich auf die unterschiedlichen Visionen: „Er, Trump, spricht von der Vergangenheit, ich richte meine Blicke in die Zukunft. Meine Absicht ist es eine Präsidentin für alle Amerikaner zu sein.“ Trump wirft Harris zum Schluss vor, all das, was sie nun vorhat, hätte sie schon in den vergangenen dreieinhalb Jahren erledigen können. „Wir werden ausgelacht, wir sind ein Staat im Untergang. Sie zerstören unser Land, mit dem schlechtesten Präsidenten, der schlechtesten Vizepräsidentin aller Zeiten.“

Ein „totes Rennen“

Die letzten Umfragen in den USA sprechen von einem toten Rennen: zwischen Donald Trump und Kamala Harris liegt ein einziger Prozentpunkt (48 zu 47 Prozent) – betrachtet man die Fehlerquote von rund 3 Prozent nach oben und nach unten, lässt sich der Wahlausgang heute nicht vorhersagen. Die Analyse wurde noch vor der TV-Debatte erhoben, wobei auch ein weiteres interessante Detail heraus gekommen ist: die WählerInnen wissen von Harris zu wenig. Daran hat auch das langanhaltende und lautstarke Hurra für die erste farbige Kandidatin nach dem Abgang von Joe Biden nichts geändert. Immer noch sagt mehr als ein Viertel aller Wähler, sie wüssten gerne mehr über und von Kamala Harris, während Trump fast alle (bis auf 9 Prozent) für ein beschriebenes Blatt halten. Für Harris stand also heute viel auf dem Spiel. Die (jetzt einmal geschätzten) 50 Millionen Zuseher in den USA haben nun in jedem Fall ein besseres Bild von Kamala Harris. Ob es reicht, sie an die Spitze des Staates zu hieven, wird man wohl erst am 5. November wissen.
Oder doch schon heute? Es gibt da jemanden, der davon überzeugt ist.

Der Geschichtsprofessor setzt auf Harris

Er vergleicht seine Methoden mit der Position des Polarsterns: „absolut konstant“. Der Geschichtsprofessor Allan Lichtmann sagt voraus, wer die Präsidentschaftswahlen in den USA gewinnt. Und er hat seit 40 Jahren immer recht gehabt, mit einer Ausnahme – als im Jahr 2000 Al Gore das Rennen gegen George W. Bush verlor. Oder besser, als damals der Oberste Gerichtshof entschied, wer die Wahlen gewonnen hatte. Noch vor der heutigen TV-Debatte legte sich Allan Lichtmann auch diesmal fest: die Wahl wird Kamala Harris gewinnen. Für sie sprechen 8 von 13 Entscheidungsgrundlagen, die sich auf die Stärke und die Leistung des Weissen Hauses beziehen, nur zwei davon fokussieren auf die Kandidaten selbst. Alle andere betrachten das politische Umfeld. Also etwa: wie hat die Partei in den Zwischenwahlen abgeschnitten (also wo es um Parlaments- und Gouverneurswahlen geht); wie entscheidend ist ein eventueller dritter Kandidat, wie hat sich die Wirtschaft kurzfristig und längerfristig entwickelt; gab es soziale Unruhen; oder Fehler bzw. Erfolge in der Aussenpolitik. Einige Punkte sprechen laut Lichtmann für Trump (etwa, dass Biden selbst nicht mehr kandidiert), andere wiederum helfen den Demokraten („Die Wirtschaft ist NICHT in einer Rezession“ oder „Biden hat in wesentlichen Punkten die Politik geändert“, etwa was das Pariser Klimaabkommen betrifft, dem die USA wieder beigetreten sind). Jeder einzelne Punkt bringt einen Vorteil für den einen oder die andere Kandidatin – am Ende siegt, so sagt der Professor voraus, Kamala Harris relativ deutlich mit 5 Punkten. Eine gewagte Prognose. Nach der heutigen TV-Debatte könnte durchaus ein sechster Grund dazukommen.

Kurzrezensionen über „Die Festplatte“

Mein neuester Polit-Krimi „Die Festplatte“ ist nun erhältlich. Dazu gibt es auch schon zwei Kurzrezensionen. Chefredakteur Hubert Patterer von der „Kleinen Zeitung“ kommt zu folgendem Schluss:
Auf den Spuren des Journalisten Bülent Erdovan entblättert Eugen Freund eine Polit-Farce wie einen James-Bond-Thriller. Diese Geschichte gleicht einem Parforceritt durch die Steppe der österreichischen Innenpolitik. Wirklichkeit und Fiktion verschwimmen, und zurück bleibt ein Leser, der aus dem Staunen und Kopfschütteln nicht mehr herausfindet.“
Dr. Janko Ferk, Schriftsteller und Jurist, schreibt über das Buch: „Eugen Freund ist als Journalist ein Meister der Recherche. Die Festplatte ist ein Kriminalroman mit Spannung über die politische Wirklichkeit in unserem Land. Sie ist gleichzeitig eine historische Quelle über österreichische Zustände. Einmal im Text, kann man nicht mehr aufhören.“

Ein 104-jähriger erzählt

Ich esse, was mir schmeckt und gehe jeden Tag auf einen Kaffee!“

Wenn man in der Wiedner Hauptstrasse in das Cafe Naber (jetzt Schönberger) geht, trifft man dort regelmässig einen älteren Herrn, der den Rollator über die Stufen hebt und sich dann einen kleinen Braunen bestellt. Mir ist der Mann auch aufgefallen, mein wirkliches Interesse hat er freilich geweckt, als ich vom Besitzer des Kaffeehauses erfuhr, dass er schon unglaubliche 104 Jahre alt ist. Geboren wurde er 1919 – zu Beginn des Zweiten Weltkrieges war er also bereits 20 Jahre alt. Wie faszinierend musste es sein, mit ihm über sein Leben zu sprechen. Eine richtige Konversation mit ihm war in der ziemlich lauten Atmosphäre nicht möglich, ich wusste daher auch nicht, wie gut sein Gedächtnis ist, wie verständlich er noch sprechen kann. Das fand ich bald heraus, als ich ihn fragte, ob er bereit wäre, sich für ein Interview zur Verfügung zu stellen. Er gab mir die Telefonnummer seiner Frau und so kam vor kurzem ein Treffen in seiner Wohnung zustande. Ich sprach über eine Stunde mit ihm, er erzählte über sei erstes dramatisches Erlebnis („Als Vierjähriger fiel ich vom Boot in den Wörthersee.“) über seine Bergtouren, seinen Kriegseinsatz, seine Arbeit als Bau-Ingenieur („In Italien plante ich ein ganzes Dorf, das bald darauf zu einem beliebten Skiort wurde.“) und auch über aktuelle Ereignisse, wie etwa den Ukraine-Krieg. Im folgenden gibt es einen ganz kleinen Ausschnitt aus dem Interview, das es wert wäre, einem grösseren Publikum, etwa über das Fernsehen oder den Hörfunk, nahe gebracht zu werden.

Ist Biden wirklich fest gesetzt?

Werden die Karten im US-Wahlkampf neu gemischt?

Von Eugen Freund

Der amerikanische Präsident ist schon ziemlich alt. Trotz zahlreicher Herausforderungen hat er die erste Amtszeit gut hinter sich gebracht. Die Wirtschaft hat sich erholt, die Inflation ging zurück, der Machthaber im Kreml ist zwar immer noch der Feind Nummer Eins, doch die Konflikte, in die Moskau verwickelt ist,  bedrohen nicht die USA selbst. Der Mann im Weissen Haus, obwohl er der älteste Präsident in der Geschichte ist, stellt sich für die nächste Periode zur Verfügung. Nur ich glaube nicht daran: ich hatte damals in den 1980er Jahren – die Rede ist also von Ronald Reagan – von seiner Wahl gegen Jimmy Carter, über das Schussattentat, das ihn schwer verletzte, bis zu seinem Wutausbruch über die Sowjetunion („Der Kommunismus gehört auf den Misthaufen der Geschichte“) die Amtszeit Reagans hautnah miterlebt, als Österreicher in New York. Ich versäumte keine politische Talk-Show, keinen „live“-Auftritt des Präsidenten, was insofern erleichtert wurde, als CNN damals gerade aus der Taufe gehoben wurde und jede relevante (oder auch irrelevante) Rede Ronald Reagans direkt über das Kabelfernsehen übertrug. Ich glaubte, nicht zuletzt auch durch die tägliche Lektüre einflussreicher US-Tageszeitungen, einen guten Einblick in die US-Politik bekommen zu haben. Und trotzdem legte ich mich fest: Reagan würde nicht mehr für eine zweite Amtszeit kandidieren. Mein Hauptargument: er habe (sich) bewiesen, dass er, der „B-Movie-Schauspieler“, durchaus zu größerem in der Lage ist, dass er eben die mächtigste Militärmacht der Erde mit starker Hand führen könne. Nun aber, als 73-jähriger, könne er sich, zufrieden und stolz auf das Erreichte, auf seine Ranch in Kalifornien zurückziehen. Wie wir wissen, kam es ganz anders: ein haushoher Sieg über den Demokraten Walter Mondale katapultierte Reagan ein weiteres Mal ins Weisse Haus.

Foto: EF

Was das alles mit Joe Biden zu tun hat? Nun, wie bei Ronald Reagan gehen auch heute alle davon aus, dass sich Biden für eine zweite Amtszeit bewirbt. Wobei „davon ausgehen“ ohnehin untertrieben ist, Biden hat ja derartiges schon offiziell angekündigt. Und dennoch halte ich es für möglich, nein, sogar für wahrscheinlich, dass alles noch ganz anders kommen kann. Also wage ich mich mit einer Prognose weit aus dem Fenster: in den nächsten sechs Monaten wird der US-Präsident seine Kandidatur wieder rückgängig machen. Das wäre keineswegs einmalig. Dazu muss ich allerdings noch etwas tiefer in die US-Geschichte greifen. Lyndon B. Johnson hatte nach der Ermordung John F. Kennedys in Dallas am 22. November 1963 das Präsidentenamt übernommen. Er war – wie sein späterer Nachnachnach…-Folger Joe Biden – ein Vollblutpolitiker. Schon als 29-jähriger zog er in das US-Repräsentantenhaus ein, ein Jahrzehnt später wurde er Senator, bevor ihn Kennedy als seinen „Running-mate“ für die Wahlen im Jahr 1960 in sein Ticket aufnahm. Johnson hatte den Vietnam-Krieg seiner Vorgänger geerbt, war aber innenpolitisch ein Revolutionär. Er erweiterte die Bürgerrechte für die afro-amerikanische Bevölkerung, erleichterte den Zugang zu Medikamenten und ärztlicher Behandlung („Medicare und Medicaid“), führte einen „Krieg gegen die Armut“ und verschärfte sogar das Waffengesetz. Doch die Stimmung in der Bevölkerung kippte, der Gegenwind, vor allem wegen seiner Vietnam-Politik, wurde schärfer. Und trotzdem waren die meisten politischen Beobachter überrascht, als er am 31. März 1968, sieben Monate vor der Wahl, ankündigte, nicht mehr zu kandidieren.

Nochmals: Was hat das alles mit Joe Biden zu tun? Biden ist achtzig. ER ist jetzt der bei weitesten älteste Präsident, den  die USA je an der Spitze hatten. Was seine Bilanz betrifft, kann sie sich sehen lassen: er hat das Land zielsicher durch schwierige Zeiten geführt. Vor allem machte er die fragwürdigen Entscheidungen seines Vorgängers Donald Trump rückgängig: die USA sind dem Klimaschutzabkommen von Paris wieder beigetreten, Washington ist wieder Mitglied der Weltgesundheitsorganisation, ein riesiges Konjunktur-Programm wurde auf den Weg gebracht, die Ukraine wird mit Milliarden von Steuergeldern in ihrem Kampf gegen den russischen Einmarsch unterstützt. Und beim mörderischen Angriff auf Israel durch die Hamas-Terroristen zeigte Biden Haltung: er flog sofort zu seinem engsten Verbündeten in den Nahen Osten, obwohl er mit Israels Regierungschef Benjamin Netanyahu nicht in bestem Einvernehmen war. Trotz aller Verfahren, die auf seinen Gegner Donald Trump jetzt warten, liegt der (vermutliche)  republikanische Präsidentschaftskandidat einige Punkte vor Biden

Nicht zuletzt, weil Joe Biden die Unterstützung der Basis verliert. Die Mehrheit in seiner Partei hält ihn einfach für zu alt. Da ist es auch nicht hilfreich, dass Biden gelegentlich stolpert (sowohl dialektisch als auch physisch), und das vor allem von seinen Gegnern in den sozialen Medien genüsslich verbreitet wird. Bei seinen offiziellen Aufritten liest er zwar beinahe fehlerfrei vom Teleprompter, doch oft so vernuschelt, dass man ihn kaum versteht. Auffällig ist auch, dass er bei jedem Besuch im Oval Office auf vorbereitete Zettel angewiesen ist. Freie, spontane Reden hört man von ihm selten. In den TV-Duellen gegen Donald Trump wird er blitzschnell reagieren müssen, da kann er sich nicht auf schriftliche Unterlagen stützen. Von den anstrengenden Wahl-Reisen quer durchs Land ganz zu schweigen. Wenn sich die Demokraten und Joe Biden dieser Realität nicht stellen, verlieren sie ein Rennen, das sie gegen diesen Donald Trump einfach nicht verlieren dürften.  

Irgendwann in den nächsten Monaten wird diese Erkenntnis auch dem Präsidenten dämmern. Oder ich habe – zum zweiten Mal in vierzig Jahren – unrecht. 

P.S. Gegen diese – zugegeben mutige – These spricht vor allem eines: weit und breit ist kein demokratischer Politiker in Sicht, der das mit sich bringt, was in den USA „name recognition“ genannt wird, also einen landesweiten Bekanntheitsgrad. 

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Happy Birthday, Henry Kissinger

Der grosse, immer wieder auch umstrittene US-Aussenpolitiker Henry Kissinger wird (wurde) am 27. Mai 100 Jahre alt. Er war einer der wenigen amerikanischen Politiker, der immer eine enge Beziehung zu Europa hatte. Im Zusammenhang mit der jetzt wieder aufgebrochenen Diskussion, ob die EU in aussenpolitischen Fragen von der Einstimmigkeit abgehen sollte (was ich im EP immer vertreten habe) erscheint mir ein Artikel, der 1987 im Magazin „Newsweek“ erschienen ist, von besonderer Aktualität – so wenig hat sich in Europa in den vergangenen 36 Jahren geändert.

Mit dieser einen Frage hatte Henry Kissinger Europa so gut wie kein anderer beschrieben : „Wen rufe ich an, wenn ich mit Europa sprechen will?“ Mittlerweile wissen wir zwar, dass auch dieser Satz ein Mythos war, denn  Kissinger soll ihn nie gesagt haben. Doch er könnte ihn geäussert haben. Ich erinnere mich noch an eine Veranstaltung,  vor ziemlich genau 25 Jahren in den USA, in der Kissinger zu Gast war und der Gastgeber ihn zum Podium bat, damit der große Aussenpolitiker eine Rede zu „Die unglaubliche Reise der Schildkröten ins Great Barrier Reef“ halten sollte. Kissinger lachte auf dem Weg zum Podium und sagte dann: „Ach, darüber soll ich sprechen? Ich bin zwar darauf nicht vorbereitet, aber irgend etwas wird mir schon einfallen.“ Und das tat es dann auch, selbst wenn die Begriffe „Schildkröten“ und „Great Barrier Reef“ nicht  vorkamen. Was folgte, war eine Tour d’horizon über alle Konflikte dieser Erde. Europa kam dabei – der Jugoslawienkrieg war noch nicht ganz ausgestanden – ebenfalls ausführlich vor. Nicht zuletzt, weil Kissinger nicht ohne Stolz darauf verweisen konnte, dass diesen Krieg nicht die Europäer sondern die USA eingedämmt hatten.

Europa hatte der deutsche US-Immigrant immer ganz oben auf seiner Agenda. Und jetzt, da er seinen 100. Geburtstag feiert, oder zumindest begeht, fällt mir ein Artikel in die Hände, der gut zu diesem Jubiläum passt. 

Begeben wir uns zurück in das Jahr 1987. Im November treffen einander in Washington die damaligen Präsidenten der Supermächte, Ronald Reagan und der Hoffnungsträger der Sowjetunion – oder besser gesagt: der, den der Westen für einen Hoffnungsträger hielt – Michael Gorbatschow. Kissinger ist nicht mehr Aussenminister und auch nicht Nationaler Sicherheitsberater, aber auf seine Stimme wird gehört, besonders wenn es um grosse Weltpolitik geht. Und so widmet er in einem Kommentar in „Newsweek“ einen längeren Absatz dem Alten Kontinent. Es ist ihm ein Leichtes, vom Abrüstungsabkommen, über das er hauptsächlich philosophiert, zu den Europäern zu kommen – oder jedenfalls zu jenem Staatenverbund, der damals aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und den Benelux-Ländern bestand. Eine einheitlich Strategie verlangt danach, dass Europa eine größere Verantwortung für seine eigene Verteidigung und Aussenpolitik übernimmt. Vier Jahrzehnte lang ist die „Leadership“ der USA mit Rezepten identifiziert worden, die ursprünglich aus Washington kommen und dann mit unseren Alliierten besprochen worden sind. So etwas wie eine sorgfältig ausgearbeitete konsultative Maschine ist dabei entstanden. Doch am Ende des Tages hängen politische Entscheidungen davon ab, dass jemand operationelle Verantwortung übernimmt. Auf lange Sicht gesehen ist es für einen Kontinent demoralisierend, wenn er sich seit dem Aufbau eines modernen Staatssystems nach seiner eigenen Verteidigung umsieht, um dann genau dieses Attribut der Souveränität aufzugeben. Wollen die Europäer ernsthaft (er schreibt: more seriously) zur eigenen Verteidigung und der Aussenpolitik beitragen, dann müssen sie sich um diese Themen ernsthafter kümmern. Und dann erwähnt Kissinger in entwaffnender Offenheit, woran das bisher gescheitert ist: Die USA haben sich gegen eine solche Entwicklung gewehrt, weil es die Trennung Europas von den Vereinigten Staaten ermutigt hätte. Und doch: Allianzen werden von gemeinsamen Interessen zusammen gehalten, nicht von irgendwelchen Beratungsmaschinerien…Wir würden mehr von europäischer Impotenz verlieren als von einer stärkeren europäischen Identität. Kissinger wagt dann einen Blick in die Zukunft, genauer in die Jahre nach 2000: Wir sehen eine radikal andere Welt. Dann wird Japan militärisch deutlich stärker dastehen, China wird ebenfalls viel stärker sein, Indien wird sehr wahrscheinlich eine Art Schlüssel-Land in Südasien sein, und die islamische Welt wird eine radikale Transformation erleben. Und einige lateinamerikanische Länder könnten zu Weltmächten werden. Europa wird dann vielleicht geeint oder irrelevant. 

Kissinger hatte damals viel Richtiges vorausgesehen, was Japan, China und Indien betrifft, eventuell auch Brasilien. Europa ist heute zweifellos geeinter als 1987, doch weltpolitisch hat es an Relevanz nicht wirklich gewonnen. Es wird höchste Zeit, das zu ändern. 

Die letzte Fahrt

Die Bahnstrecke von Tainach-Stein nach Klagenfurt wird eingestellt

Der Wind treibt das schwache Geräusch vor sich her: vorbei sind die Zeiten, als man die Lokomotive schon hört, bevor sie aufgetaucht ist. Jetzt treibt ein leiser Dieselmotor die beiden modernen, blau-gelben Triebwagen an, die langsam in die Station „Tainach-Stein“ einfahren. Heute fahre ich nach fast 62 Jahren zum letzten Mal die Strecke nach Klagenfurt, am Palmsonntag wird der Zug eingestellt. Die „Koralmbahn“ wird fertig gestellt, in einigen Bereichen kreuzt sie die alten Schienen, da heisst es dann Entweder-Oder. In diesem Fall hat die Verbindung Graz – Klagenfurt Vorrang. 

Im September 1961 fuhr ich zum ersten Mal mit dem Zug nach Klagenfurt. Damals verkehrte noch eine laute Dampflokomotive, es rauchte nicht nur schwarze, verbrannte Kohle aus dem Schlot über dem Kessel, dazu kam noch weisser Dampf, der aus allen Ecken und Enden hervor blies. Zur warmen Jahreszeit, bei geöffneten Fenstern, verirrte sich der Rauch auch in die Waggons, wie die Lokomotive keuchten und husteten auch die Passagiere. Wir sassen damals noch auf Holzbänken, zwischen den Waggons war die Plattform offen, nur ein Eisenbügel verhinderte den Absturz ins freie Gelände. Die Fenster liessen sich mit Hilfe eines Lederbandes, das aussah wie ein Gürtel, öffnen und an einem Zapfen festmachen. Die Neulinge hatten es nicht immer einfach, vor allem dann nicht, wenn sich die älteren Schüler von ihnen gestört fühlten – oder sie einfach ihre Überlegenheit zeigen wollten: einmal war ich das Opfer, indem mich ein kräftiger Junge einfach auf das Gepäckabteil hob, das über jeder Sitzreihe angebracht war. Irgendjemand muss dann doch Mitleid mit mir gehabt und mich wieder runter geholt haben.

Für uns St. Kanzianer Schüler  bedeutete der Schulweg nach Klagenfurt erst einmal ein dreieinhalb Kilometer langen Fussmarsch zum Bahnhof nach Tainach-Stein. Meine Schwester war darin schon geübt, sie war zwei Jahre älter und so begleitete ich sie. Es ging früh los, der Zug  fuhr um viertel vor sieben vom Bahnhof weg. Das bedeutete für uns, um sechs Uhr von zuhause los zu marschieren. In den ersten Wochen war es um diese Jahreszeit noch einigermassen hell, doch im Oktober begann es sich dann einzudunkeln. Die Winter wurden damals noch ihrem Namen gerecht, und so stapften wir auch immer wieder durch tiefen Schnee – meist hatte der Zug dann auch Verspätung und so ging es sich irgendwie aus. 

Die Koralm-Bahn wird die neue Brücke über die Drau benützen

Einige Zeit später gab es dann Mitfahr-Gelegenheiten: der Vater meines Schulfreundes Herbert Jesse nahm uns zum Bahnhof mit, meine Mutter machte dann ihren Führerschein und so wurde aus dem langen Fussweg eine relativ kurze Autofahrt. Nicht selten kam es vor, dass wir über die Eisenbahn-Brücke fuhren und unter uns schon der Zug in den Bahnhof einfuhr. Dann begann ein richtiges Wettrennen. Der Zug hatte nur noch 150 Meter, also  musste er bremsen, für uns hiess es richtig Gas geben, und je näher wir der Station kamen, desto öfter hupten wir, um den Lokführer darauf aufmerksam zu machen, dass wir ohnehin schon fast da waren. Bis zum Bahnsteig selbst konnte man mit dem Auto nicht fahren, also hasteten wir die letzten Meter nach oben, nicht ohne dem Stationsvorsteher zuzuwinken und ein „Danke“ zuzurufen. D

Je älter wir waren, desto mehr Möglichkeiten, zum Bahnhof zu kommen, taten sich auf. Mal sassen wir eng zusammen gepfercht im Puch 500 unseres Nachbarn Odo Jonke, dann war es der Lehrer Felix Schwarz, dessen Sohn Heini auch nach Klagenfurt ins Gymnasium ging, gelegentlich nahmen wir auch einen Autobus, der zumindest im Winter eingesetzt wurde. Und weil es im Winter damals nicht nur ordentlich schneite sondern die Strasse oft auch mit einer Kombination aus Schnee und Glatteis bedeckt war, konnte sich die Fahrt zum echten Abenteuer entwickeln. Einmal schlitterte der Bus vor der Drce-Kurve so hin und her, dass er fast den steilen Abhang abzustürzen drohte.

Wir hatten selten Zeit, uns am Bahnhof umzusehen, wer alles den Zug benützt: viele meiner Schulfreunde waren schon in Kühnsdorf oder in Bleiburg eingestiegen, in Tainach-Stein waren es hauptsächlich Arbeiter, die in Klagenfurt beschäftigt waren. Donnerstags kam immer ein Mann, unter dessen Hut graue Locken hervor stachen, mit seinem Fahrrad, das er dann am Zaun anlehnte: es war der berühmte Maler Werner Berg, den ich auch von Visiten meines Vaters am „Rutarhof“ kannte. Er fuhr zum Markt nach Klagenfurt, nicht nur, um frisches Gemüse zu kaufen, auch um Skizzen des dortigen umtriebigen Geschehens anzufertigen. 

Am Bahnhof in Klagenfurt gab es unter den Bahnsteigen einen schwach erleuchteten Durchgang, der mir auch einmal zum Nachteil werden liess: „Heast, was host du denn fir a Koppn?“, rief mir einer aus einer Gruppen von drei Jugendlichen zu, stürzte sich auf mich und riss mir die „Russenmütze“ vom Kopf. Es war Winter und ich trug damals, wie viele andere auch, die berühmte Bärenmütze, deren Fellklappen man entweder oben zusammen binden oder über die Ohren legen konnte. Die Kappe sah ich nie wieder. 

Am Ende des düsteren Durchgangs konnte man sich vor dem „Hort“, der als Aufbewahrungsort für Kinder eingerichtet wurde, entscheiden, links oder rechts zu gehen. Der linke Aufgang führte durch die große Eingangshalle, der sich durch zwei riesige moderne Gemälde des Kärntner Malers Giselbert Hoke auszeichneten. Sie hatten nach ihrer Fertigstellung im Jahr 1956 zu wütenden Protesten geführt: viele konnten mit diesen Fresken „Wand der Kläger“ und „Wand der Angeklagten“ nichts anfangen. Aus Anlass ihrer 50-jährigen Bestandes schrieb der „Standard“ am 31. August 2006 über den Skandal von damals: „Über Wochen und Monate hinweg tobte die Debatte über „entartete Kunst“, die Fresken wurden in Zeitungstiteln als „Eisenbahnunglück“ bezeichnet. Gegner gründeten einen Verein, der Geld und Unterschriften sammelte, um die Fresken wieder loszuwerden. Im Volksmund wurde er „Freskenvertilgungsverein“ getauft.“  Am Ende blieben die Fresken bestehen, der Zigaretten-Rauch sorgte dafür, dass nach und nach immer weniger davon zu sehen war. 2009 wurden sie von Hokes Tochter Karma restauriert und sogar unter Denkmalschutz gestellt. 

Thomas Maier hat noch zwei Tage Dienst. Als Fahrdienstleiter war er seit zweieinhalb Jahren in Tainach-Stein eingesetzt, jetzt, so erzählt er mir, wechselt er nach Fürnitz. Grosser Schmerz ist ihm nicht anzumerken. „Zum großen Verschiebebahnhof?“ frage ich. Nein, er wird für die Strecke nach Hermagor eingesetzt: „Kein Nachteil, weil ich es dann näher nach Feldkirchen habe, wo ich zuhause bin.“ 

Mittlerweile sitze ich im Zug, um diese Zeit – es ist halb elf am Vormittag – ist er nur schwach besetzt. Vor mir sitzen zwei ältere Ehepaare, auch sie, das entnehme ich Ihren Gesprächen, sind aus Nostalgie heute unterwegs. Als die Durchsage auf die geänderten Fahrbedingungen am 3. April hinweist („Beachten Sie bitte, dass ein Schienenersatzverkehr zwischen Wolfsberg und Klagenfurt eingesetzt wird…“) höre ich einen der Passagiere fragen: „Was sie wohl bei der allerletzten Fahrt durchsagen werden?“ „Das wirst Du nur erfahren, wenn Du da mitfährst.“ Ob Chris Lohner tatsächlich etwas aufgenommen hat?

(Der Text ist auszugsweise meinem Buch: „Bleib schön sitzen“ (Wieser Verlag, 2021) entnommen)