Die letzte Fahrt

Die Bahnstrecke von Tainach-Stein nach Klagenfurt wird eingestellt

Der Wind treibt das schwache Geräusch vor sich her: vorbei sind die Zeiten, als man die Lokomotive schon hört, bevor sie aufgetaucht ist. Jetzt treibt ein leiser Dieselmotor die beiden modernen, blau-gelben Triebwagen an, die langsam in die Station „Tainach-Stein“ einfahren. Heute fahre ich nach fast 62 Jahren zum letzten Mal die Strecke nach Klagenfurt, am Palmsonntag wird der Zug eingestellt. Die „Koralmbahn“ wird fertig gestellt, in einigen Bereichen kreuzt sie die alten Schienen, da heisst es dann Entweder-Oder. In diesem Fall hat die Verbindung Graz – Klagenfurt Vorrang. 

Im September 1961 fuhr ich zum ersten Mal mit dem Zug nach Klagenfurt. Damals verkehrte noch eine laute Dampflokomotive, es rauchte nicht nur schwarze, verbrannte Kohle aus dem Schlot über dem Kessel, dazu kam noch weisser Dampf, der aus allen Ecken und Enden hervor blies. Zur warmen Jahreszeit, bei geöffneten Fenstern, verirrte sich der Rauch auch in die Waggons, wie die Lokomotive keuchten und husteten auch die Passagiere. Wir sassen damals noch auf Holzbänken, zwischen den Waggons war die Plattform offen, nur ein Eisenbügel verhinderte den Absturz ins freie Gelände. Die Fenster liessen sich mit Hilfe eines Lederbandes, das aussah wie ein Gürtel, öffnen und an einem Zapfen festmachen. Die Neulinge hatten es nicht immer einfach, vor allem dann nicht, wenn sich die älteren Schüler von ihnen gestört fühlten – oder sie einfach ihre Überlegenheit zeigen wollten: einmal war ich das Opfer, indem mich ein kräftiger Junge einfach auf das Gepäckabteil hob, das über jeder Sitzreihe angebracht war. Irgendjemand muss dann doch Mitleid mit mir gehabt und mich wieder runter geholt haben.

Für uns St. Kanzianer Schüler  bedeutete der Schulweg nach Klagenfurt erst einmal ein dreieinhalb Kilometer langen Fussmarsch zum Bahnhof nach Tainach-Stein. Meine Schwester war darin schon geübt, sie war zwei Jahre älter und so begleitete ich sie. Es ging früh los, der Zug  fuhr um viertel vor sieben vom Bahnhof weg. Das bedeutete für uns, um sechs Uhr von zuhause los zu marschieren. In den ersten Wochen war es um diese Jahreszeit noch einigermassen hell, doch im Oktober begann es sich dann einzudunkeln. Die Winter wurden damals noch ihrem Namen gerecht, und so stapften wir auch immer wieder durch tiefen Schnee – meist hatte der Zug dann auch Verspätung und so ging es sich irgendwie aus. 

Die Koralm-Bahn wird die neue Brücke über die Drau benützen

Einige Zeit später gab es dann Mitfahr-Gelegenheiten: der Vater meines Schulfreundes Herbert Jesse nahm uns zum Bahnhof mit, meine Mutter machte dann ihren Führerschein und so wurde aus dem langen Fussweg eine relativ kurze Autofahrt. Nicht selten kam es vor, dass wir über die Eisenbahn-Brücke fuhren und unter uns schon der Zug in den Bahnhof einfuhr. Dann begann ein richtiges Wettrennen. Der Zug hatte nur noch 150 Meter, also  musste er bremsen, für uns hiess es richtig Gas geben, und je näher wir der Station kamen, desto öfter hupten wir, um den Lokführer darauf aufmerksam zu machen, dass wir ohnehin schon fast da waren. Bis zum Bahnsteig selbst konnte man mit dem Auto nicht fahren, also hasteten wir die letzten Meter nach oben, nicht ohne dem Stationsvorsteher zuzuwinken und ein „Danke“ zuzurufen. D

Je älter wir waren, desto mehr Möglichkeiten, zum Bahnhof zu kommen, taten sich auf. Mal sassen wir eng zusammen gepfercht im Puch 500 unseres Nachbarn Odo Jonke, dann war es der Lehrer Felix Schwarz, dessen Sohn Heini auch nach Klagenfurt ins Gymnasium ging, gelegentlich nahmen wir auch einen Autobus, der zumindest im Winter eingesetzt wurde. Und weil es im Winter damals nicht nur ordentlich schneite sondern die Strasse oft auch mit einer Kombination aus Schnee und Glatteis bedeckt war, konnte sich die Fahrt zum echten Abenteuer entwickeln. Einmal schlitterte der Bus vor der Drce-Kurve so hin und her, dass er fast den steilen Abhang abzustürzen drohte.

Wir hatten selten Zeit, uns am Bahnhof umzusehen, wer alles den Zug benützt: viele meiner Schulfreunde waren schon in Kühnsdorf oder in Bleiburg eingestiegen, in Tainach-Stein waren es hauptsächlich Arbeiter, die in Klagenfurt beschäftigt waren. Donnerstags kam immer ein Mann, unter dessen Hut graue Locken hervor stachen, mit seinem Fahrrad, das er dann am Zaun anlehnte: es war der berühmte Maler Werner Berg, den ich auch von Visiten meines Vaters am „Rutarhof“ kannte. Er fuhr zum Markt nach Klagenfurt, nicht nur, um frisches Gemüse zu kaufen, auch um Skizzen des dortigen umtriebigen Geschehens anzufertigen. 

Am Bahnhof in Klagenfurt gab es unter den Bahnsteigen einen schwach erleuchteten Durchgang, der mir auch einmal zum Nachteil werden liess: „Heast, was host du denn fir a Koppn?“, rief mir einer aus einer Gruppen von drei Jugendlichen zu, stürzte sich auf mich und riss mir die „Russenmütze“ vom Kopf. Es war Winter und ich trug damals, wie viele andere auch, die berühmte Bärenmütze, deren Fellklappen man entweder oben zusammen binden oder über die Ohren legen konnte. Die Kappe sah ich nie wieder. 

Am Ende des düsteren Durchgangs konnte man sich vor dem „Hort“, der als Aufbewahrungsort für Kinder eingerichtet wurde, entscheiden, links oder rechts zu gehen. Der linke Aufgang führte durch die große Eingangshalle, der sich durch zwei riesige moderne Gemälde des Kärntner Malers Giselbert Hoke auszeichneten. Sie hatten nach ihrer Fertigstellung im Jahr 1956 zu wütenden Protesten geführt: viele konnten mit diesen Fresken „Wand der Kläger“ und „Wand der Angeklagten“ nichts anfangen. Aus Anlass ihrer 50-jährigen Bestandes schrieb der „Standard“ am 31. August 2006 über den Skandal von damals: „Über Wochen und Monate hinweg tobte die Debatte über „entartete Kunst“, die Fresken wurden in Zeitungstiteln als „Eisenbahnunglück“ bezeichnet. Gegner gründeten einen Verein, der Geld und Unterschriften sammelte, um die Fresken wieder loszuwerden. Im Volksmund wurde er „Freskenvertilgungsverein“ getauft.“  Am Ende blieben die Fresken bestehen, der Zigaretten-Rauch sorgte dafür, dass nach und nach immer weniger davon zu sehen war. 2009 wurden sie von Hokes Tochter Karma restauriert und sogar unter Denkmalschutz gestellt. 

Thomas Maier hat noch zwei Tage Dienst. Als Fahrdienstleiter war er seit zweieinhalb Jahren in Tainach-Stein eingesetzt, jetzt, so erzählt er mir, wechselt er nach Fürnitz. Grosser Schmerz ist ihm nicht anzumerken. „Zum großen Verschiebebahnhof?“ frage ich. Nein, er wird für die Strecke nach Hermagor eingesetzt: „Kein Nachteil, weil ich es dann näher nach Feldkirchen habe, wo ich zuhause bin.“ 

Mittlerweile sitze ich im Zug, um diese Zeit – es ist halb elf am Vormittag – ist er nur schwach besetzt. Vor mir sitzen zwei ältere Ehepaare, auch sie, das entnehme ich Ihren Gesprächen, sind aus Nostalgie heute unterwegs. Als die Durchsage auf die geänderten Fahrbedingungen am 3. April hinweist („Beachten Sie bitte, dass ein Schienenersatzverkehr zwischen Wolfsberg und Klagenfurt eingesetzt wird…“) höre ich einen der Passagiere fragen: „Was sie wohl bei der allerletzten Fahrt durchsagen werden?“ „Das wirst Du nur erfahren, wenn Du da mitfährst.“ Ob Chris Lohner tatsächlich etwas aufgenommen hat?

(Der Text ist auszugsweise meinem Buch: „Bleib schön sitzen“ (Wieser Verlag, 2021) entnommen)