Der grosse, immer wieder auch umstrittene US-Aussenpolitiker Henry Kissinger wird (wurde) am 27. Mai 100 Jahre alt. Er war einer der wenigen amerikanischen Politiker, der immer eine enge Beziehung zu Europa hatte. Im Zusammenhang mit der jetzt wieder aufgebrochenen Diskussion, ob die EU in aussenpolitischen Fragen von der Einstimmigkeit abgehen sollte (was ich im EP immer vertreten habe) erscheint mir ein Artikel, der 1987 im Magazin „Newsweek“ erschienen ist, von besonderer Aktualität – so wenig hat sich in Europa in den vergangenen 36 Jahren geändert.
Mit dieser einen Frage hatte Henry Kissinger Europa so gut wie kein anderer beschrieben : „Wen rufe ich an, wenn ich mit Europa sprechen will?“ Mittlerweile wissen wir zwar, dass auch dieser Satz ein Mythos war, denn Kissinger soll ihn nie gesagt haben. Doch er könnte ihn geäussert haben. Ich erinnere mich noch an eine Veranstaltung, vor ziemlich genau 25 Jahren in den USA, in der Kissinger zu Gast war und der Gastgeber ihn zum Podium bat, damit der große Aussenpolitiker eine Rede zu „Die unglaubliche Reise der Schildkröten ins Great Barrier Reef“ halten sollte. Kissinger lachte auf dem Weg zum Podium und sagte dann: „Ach, darüber soll ich sprechen? Ich bin zwar darauf nicht vorbereitet, aber irgend etwas wird mir schon einfallen.“ Und das tat es dann auch, selbst wenn die Begriffe „Schildkröten“ und „Great Barrier Reef“ nicht vorkamen. Was folgte, war eine Tour d’horizon über alle Konflikte dieser Erde. Europa kam dabei – der Jugoslawienkrieg war noch nicht ganz ausgestanden – ebenfalls ausführlich vor. Nicht zuletzt, weil Kissinger nicht ohne Stolz darauf verweisen konnte, dass diesen Krieg nicht die Europäer sondern die USA eingedämmt hatten.
Europa hatte der deutsche US-Immigrant immer ganz oben auf seiner Agenda. Und jetzt, da er seinen 100. Geburtstag feiert, oder zumindest begeht, fällt mir ein Artikel in die Hände, der gut zu diesem Jubiläum passt.
Begeben wir uns zurück in das Jahr 1987. Im November treffen einander in Washington die damaligen Präsidenten der Supermächte, Ronald Reagan und der Hoffnungsträger der Sowjetunion – oder besser gesagt: der, den der Westen für einen Hoffnungsträger hielt – Michael Gorbatschow. Kissinger ist nicht mehr Aussenminister und auch nicht Nationaler Sicherheitsberater, aber auf seine Stimme wird gehört, besonders wenn es um grosse Weltpolitik geht. Und so widmet er in einem Kommentar in „Newsweek“ einen längeren Absatz dem Alten Kontinent. Es ist ihm ein Leichtes, vom Abrüstungsabkommen, über das er hauptsächlich philosophiert, zu den Europäern zu kommen – oder jedenfalls zu jenem Staatenverbund, der damals aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und den Benelux-Ländern bestand. Eine einheitlich Strategie verlangt danach, dass Europa eine größere Verantwortung für seine eigene Verteidigung und Aussenpolitik übernimmt. Vier Jahrzehnte lang ist die „Leadership“ der USA mit Rezepten identifiziert worden, die ursprünglich aus Washington kommen und dann mit unseren Alliierten besprochen worden sind. So etwas wie eine sorgfältig ausgearbeitete konsultative Maschine ist dabei entstanden. Doch am Ende des Tages hängen politische Entscheidungen davon ab, dass jemand operationelle Verantwortung übernimmt. Auf lange Sicht gesehen ist es für einen Kontinent demoralisierend, wenn er sich seit dem Aufbau eines modernen Staatssystems nach seiner eigenen Verteidigung umsieht, um dann genau dieses Attribut der Souveränität aufzugeben. Wollen die Europäer ernsthaft (er schreibt: more seriously) zur eigenen Verteidigung und der Aussenpolitik beitragen, dann müssen sie sich um diese Themen ernsthafter kümmern. Und dann erwähnt Kissinger in entwaffnender Offenheit, woran das bisher gescheitert ist: Die USA haben sich gegen eine solche Entwicklung gewehrt, weil es die Trennung Europas von den Vereinigten Staaten ermutigt hätte. Und doch: Allianzen werden von gemeinsamen Interessen zusammen gehalten, nicht von irgendwelchen Beratungsmaschinerien…Wir würden mehr von europäischer Impotenz verlieren als von einer stärkeren europäischen Identität. Kissinger wagt dann einen Blick in die Zukunft, genauer in die Jahre nach 2000: Wir sehen eine radikal andere Welt. Dann wird Japan militärisch deutlich stärker dastehen, China wird ebenfalls viel stärker sein, Indien wird sehr wahrscheinlich eine Art Schlüssel-Land in Südasien sein, und die islamische Welt wird eine radikale Transformation erleben. Und einige lateinamerikanische Länder könnten zu Weltmächten werden. Europa wird dann vielleicht geeint oder irrelevant.
Kissinger hatte damals viel Richtiges vorausgesehen, was Japan, China und Indien betrifft, eventuell auch Brasilien. Europa ist heute zweifellos geeinter als 1987, doch weltpolitisch hat es an Relevanz nicht wirklich gewonnen. Es wird höchste Zeit, das zu ändern.