Radio oder Zeitungen – können beide überleben?

Aus „The Nation“ vom 24. Dezember 1924

Jetzt sind also hundert Jahre vergangen, seit sich das Radio auf allen Kontinenten ausgebreitet hat und nicht nur „The Nation“ die „Überlebensfrage“ gestellt hat. Zeitungen gibt es noch immer, das Radio auch. Wie sich beide verändert haben, darauf werde ich am Ende eingehen. Doch was waren die Befürchtungen im Jahre 1924? Marc A. Rose, der Autor des Artikels in „The Nation“, lässt uns gleich am Anfang wissen, welche Fragen ihn bedrängen. Zum Beispiel: Was wird das Radio mit den Zeitungen anstellen? Wird das Radio den Verkauf der Zeitungen negativ beeinflussen oder sie gar zerstören, weil es einen Ersatz gibt? Vielleicht wird der Einfluss (der Zeitungen) zurück gehen? Oder könnte das Radio die Zeitungen gar unterstützen?

Auf die Nachrichtenagenturen, so liest man in dem Artikel, kamen schlechte Zeiten zu: der renommierten Associated Press wurde verboten, Sendungen zu gestalten oder auch nur Beiträge für Radiosender zur Verfügung zu stellen. Doch schon damals wurde das Verbot aufgeweicht: ein Mitglied der A.P., die Chicago Tribune, kündigte an, Wahlergebnisse zu übertragen und eventuelle Einschränkungen vor dem Obersten Gericht zu bekämpfen. Für Karl A. Bickel, den Chef der Konkurrenz-Agentur, der United Press, war eines klar: „Man kann das Radio nicht einfach in Luft auflösen. Ob wir es nun mögen oder nicht, es ist da.“

Zu jener Zeit – und danach viele Jahre lang – lebten die Zeitungen sehr gut von der Werbung. Für das Radio gab es vor hundert Jahren nichts derartiges. „Das ist die Situation heute,“ schreibt Marc Rose, „morgen wird dieses aufgeweckte, dieses wunderbare Baby entdecken, wie man damit auch Geld verdienen kann…Und was, wenn sie einen beträchtlichen Anteil ihres Gewinnes von den Zeitungen abschöpfen?“  Aus eigener Erfahrung – auch wenn diese keinen langen Zeitraum umfasst – war Rose der Ansicht, dass aus gebildeten Zuhörern, sagen wir: einer Ansprache des Präsidenten, auch Leser einer Zeitung werden, wenn sie es nicht ohnehin schon sind. Sich eine ganze Rede anzuhören, kann schon mal eine Stunde dauern, den entsprechenden Artikel in der Zeitung schafft man, argumentiert Rose, in einer viertel Stunde. Dazu kommt, so vermutete der Autor, dass die Übertragung öffentlicher Reden auch die Genauigkeit der Wiedergabe in den Zeitungen verbessern würde – denn die angenommenen Millionen Zuhörer würden sich sofort bei der Zeitung beschweren, wenn der Text nicht mit dem übereinstimmt, was sie im Radio gehört haben. Auch der „lautstarke Enthusiasmus“ und die „wilde Zustimmung“ der anwesenden Gäste, von der die Zeitung am nächsten Tag berichtet, muss stattgefunden haben, sonst würden empörte Leserbriefe folgen. Seine eigene Meinung – so sie wenig verklausuliert nicht ohnehin schon zwischen den Zeilen zu lesen war – gibt Autor Marc A. Rose im letzten Absatz wieder: „Radio lässt sich nicht fesseln, es wird eine immer stärkere Rolle als Verteiler von Nachrichten spielen. ABER als Verbündeter, nicht als Feind der Zeitungen. Und wenn ich falsch liege, kann ich immer noch Radio-Sprecher werden“

Rose hat mit vielem recht gehabt. Doch hundert Jahre später hat sich die gesamte Medienlandschaft geändert. Zeitungen leiden nicht unter dem Radio, sondern unter den weggefallenen Werbeeinschaltungen, die immer mehr zu US-dominierten neuen Medien abwandern: Youtube, Instagram, Facebook und die chinesische App Tik Tok, die sozialen Medien, sie alle saugen Commercials von den traditionellen Informationsträgern ab. Dazu kommen hohe Papierkosten und steigende Energiepreise, die den Verlegern zusätzliche Kopfschmerzen verursachen. Das Radio wiederum wird von Podcasts bedrängt, die immer mehr Hörer anziehen. Ob Zeitungen und Radiosender bis zum Jahr  2124 überleben, sehe ich nicht sehr rosig.