Peter Turrini – ein literarischer Kraftlackel (Profil März 1973)


Die einen halten ihn für einen »Theater-Wilderer« (»Pfälzischer Merkur«), andere für einen »echten Dra- matiker« (»Frankfurter Neue Presse«). Er heißt Peter Turrini, ist der derzeit fruchtbarste österreichische Lite- rat (seine Beaumarchais-Bearbeitung »Der tollste Tag« hatte am 10. März im Volkstheater ostösterreichische Erstaufführung, wenige Tage vorher kam in Klagenfurt sein Ein-Personen-Stück »Kindsmord« zur Urauffüh- rung), ist 29 Jahre alt und, wie er sagt, von Beruf »Hei- matdichter«.
Dass er Heimatdichter geworden ist, verdankt Turrini unter anderem dem designierten Anti-PEN-Klub- Präsidenten H. C. Artmann. 1970 zeigte Turrini dem längst Arrivierten auf der Frankfurter Buchmesse das Manuskript der »rozznjogd« (profil 2/72), und dieser empfahl dem Literatur-Neuling, das Stück nach Wien an einen Verlag zu schicken. »Und wie ich nach Wien kom- me«, staunt Turrini noch heute, »war das Stück schon ans Volkstheater verkauft.«
Der Weg zum Publikumsschocker und Serienschrei- ber brutal-hintergründiger Stücke war verschlungen. In der Klagenfurter Handelsakademie wirkte Turrini als »permanenter Störfaktor« und hasste vor allem den Deutschunterricht und die Schul-Theaterbesuche im Klagenfurter Stadttheater. Anders als seine Kollegen wanderte Turrini nach der Handelsschulmatura nicht in eine Bank, sondern zur VÖEST. Dort »schöpfte« er täglich bei Temperaturen von 60 Grad am Hochofen. Wenngleich er jeden Abend wie tot einschlief, erwachte sein »kulturelles Be- wußtsein«. »Wenn man Tag und Nacht arbeitet«, erinnert sich Turrini an sein sechsmonatiges Gastspiel am Hochofen, »kommt einem das ganze Kulturangebot lächerlich vor«.
Dennoch beschloss der »Kraftlackel« (Turrini über Turrini), nicht Kultur für die Werktätigen zu machen, sondern verdingte sich vorerst als Barmixer, Büroma- schinen-Vertreter, Magazineur und Maître d’Hotel, landete schließlich beim Bundesheer, rebellierte dort aus »Hass gegen Institutionen«, indem er eine Meldung musikalisch verzierte und dafür ins Gefängnis kam. Die- se Gefängnis-Episode machte auf den Jung-Revoluzzer nachhaltigen Eindruck. Heute hält er in Gefängnissen Dichterlesungen, engagiert sich für einen humaneren Strafvollzug oder auch für einzelne Gesetzesbrecher.
Sein Protest gegen das »Eingesperrt-Sein« veranlasste ihn auch, seinen bislang bestbezahlten Posten (Angestell- ter im Frankfurter Büro der amerikanischen Werbeagen- tur J. W. Thompson) aufzugeben und nach Griechenland zu fliehen, wo er ein Jahr lang auf einer kleinen Insel in einer Kommune lebte und plötzlich zu schreiben begann. Im Land der Obristen schreibt Turrini »rozznjogd« und die »Erlebnisse in der Mundhöhle« (Turrini: »Ich hab’ das nie für Literatur gehalten«). Zwei Jahre später gab es bei der Uraufführung der »rozznjogd« im Wiener Volkstheater den größten Publikumsskandal, den das Theater je zu verzeichnen hatte« (»Hannoversche Rundschau«). Der »Spiegel« schrieb von einem »rüden Show-Stück, das mit Herz und Hosenschlitz ganz am Geschmack des Publikums orientiert ist«. Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« wiederum hatte »keinen Zweifel an Turrinis Talent«.
1971 entstand im Auftrag der Wiener Festwochen »Zero – Zero«, das vom Liebeswerben bis zum Werbe- slogan alle Sprachklischees beinhaltet. Da aber Publi- kum und Presse in ihrer Beurteilung jeweils noch eine Null beisteuerten, ging dieses »Kunst-Stück« (Turrini) unter. Turrini nicht: Sein nächstes Stück erschien schon ein halbes Jahr darauf, war aber in Titel und Thematik brisanter. »Ein Spiegelbild der Situation der Slowenen in Kärnten« nennt der Autor sein »Sauschlachten« – ein Schauspiel, in dem ein der menschlichen Sprache unkundiger, grunzender Bauernsohn denen zum Fraß vorge- worfen wird, die ihm nach Meinung seiner Verwandten ähnlich sind: den Schweinen. (Dass dieses »Sauschlach- ten« so weltfremd nicht ist, bewiesen ein paar Burschen im Kärntner Gurktal, die einen betrunkenen Knecht »zum Spaß« in den Schweinetrog warfen, wo ihm denn auch prompt die Genitalien abgebissen wurden. Das Ende Februar gefällte Urteil für die »Spaßvögel«: ein Monat Kerker wegen »versäumter Aufsichtspflicht«.)
In den Schweinetrog wollten auch viele Kulturhüter den Autor verfrachten: »Am besten wäre, man tät’ den Turrini den Schweindeln vorwerfen!« schrieb ein Ano- nymus an Turrini. Andere wiederum reagierten positiv. Hilde Spiel schwelgte in Superlativen: »Ausgezeichnet« sind seine Stücke, »begabt und vielseitig« ist er, und die Literatur-Lady konnte nicht umhin: »Er erinnert mich ir- gendwie an Heinrich Böll.« Dieser »angenehme Mensch, der so gute Kärntner Wurschtnudeln kocht« (Stammre- gisseur Bernd Fischerauer), ist für Friedrich Heer »ein junges, kämpferisches Talent, das echte Radikalität und waches, politisches Engagement zeigt«, kurzum »eine al- lerfreulichste Erscheinung«. Doch Turrini, stets schwarz gekleidet und mit einem bunten Seidenschal um den Hals, ist auch eitel, nervös, unsicher, gehemmt. In einem größeren Forum, bei Diskussionen wirkt er zwar souve- rän, sobald man ihm aber allein gegenübersitzt, wird er unsicher (»Hab ich das wirklich gesagt?«) und versucht, diese Unsicherheit hinter Zigarettenrauch zu verbergen. Die so verpestete Luft will er mit Hilfe einer ständig brennenden Kerze verbessern; gelüftet wird, wenn über- haupt, immer erst nach der Arbeit, und oft arbeitet er Tag und Nacht.
Eine Arbeit, die zudem das erste Zusammenspiel zwi- schen Turrini und dem Burgtheater bedeutet hätte, schei- terte jedoch, bevor sie noch richtig anfing. Die Altbühne wollte vom Jungautor eine wörtliche Übersetzung von Goldonis »Mirandolino«, er aber (»Ich bin ja kein Dolmetscher«) verweigerte dies.
Wie er es auch schon mit Beaumarchais’ »Tollem Tag« gemacht hatte. Turrinis Bearbeitung wurde Mitte März in Wien erstaufgeführt. Schon 1972 wischte die konser- vative Wochenzeitung »Christ und Welt« eventuelle Be- fürchtungen vom Tisch: »Wer glaubte, hier hätte einer abgeschrieben, weil er sich ausgeschrieben hat, der war auf dem Holzweg.« Aber auch die Wiener Zuschauer, die bis zur Pause das Stück für eine anspruchslose Komödie hielten, sahen sich nach dem Brötchenschmaus auf dem Holzweg. Turrini dreht nämlich den Mechanismus von Macht und Witz um, lässt Figaro den Grafen Almavi- va erdrosseln, nicht ohne ihm vorher noch schnell Jus- tizmord vorzuwerfen: »In Spanien wird die Gerechtig- keit abgetrieben!« Bei Turrini wurde letzte Woche auch in Klagenfurt abgetrieben. In seinem volkstümlichen Schauerdrama »Kindsmord« (einzige Darstellerin: Turrini-Ehefrau Corinna), das im großbürgerlichen Milieu spielt, geht es um den Paragraphen 144. Das Stück ist im »dramatischen Zentrum« auf der Wiener Freyung unter Mitwirkung von Schauspielern, Regisseuren und Psy- chologen entstanden. Turrini wirkt auch als »bezaubern- der Schauspieler« mit. Als das Volkstheater zwei Tage vor der Premiere der »Gräfin von Rathenau« wegen ei- ner Erkrankung eines Schauspielers, der noch dazu Itali- enisch sprechen musste und konnte, in arge Bedrängnis geriet, sprang Turrini ein und ließ die »Presse« nachher aufjubeln: »Ein Naturereignis überstrahlte den Abend.«
Dieses »Naturereignis« überstrahlt neuerdings auch die bisher immer etwas lustlos geführten Sitzungen des PEN-Klubs. Nach dem Abgang des monarchischen Mo- nokelträgers Lernet-Holenia wurde Peter Turrini in den Vorstand kooptiert. Zusammen mit Prof. Friedrich Heer versucht er, mehr Leben und mehr Literaten in diesen exklusiven Klub zu bringen, bislang freilich ohne sichtbaren Erfolg.

P.S. Das war mein erster großer Artikel für das Profil, für das ich von 1972 bis 1974 als freier Mitarbeiter arbeiten durfte.