Wie schlimm war das Jahr wirklich? Ein Rückblick und ein Ausblick
Was für ein Jahr: der Krieg in unserer Nachbarschaft nimmt kein Ende, tausende sterben, zehntausende flüchten, auch zu uns. In den USA wird der Präsident nach nur einer Legislaturperiode aus dem Amt gefegt – von einem Kandidaten, der zeitweise mehr mit seinem fragwürdigen Verhältnis zu Frauen Schlagzeilen macht als mit zukunftsorientierter Politik. Das Thema Abtreibung spaltet die Gesellschaft, „Demagogen sind überall zur Stelle“ bemerkt das TIME-Magazin in einer Titelgeschichte. Und im Nahen Osten erreicht der Kampf zwischen Palästinensern und Israelis einen neuen Höhepunkt. Klingt alles wie aus den vergangenen Monaten, und ist doch schon zweiunddreissig Jahre her. Es war kein gutes Jahr, dieses 1992.
„Wir sind noch weit von einem Aufschwung entfernt“ – Der Chef des Instituts für Höhere Studien war – wieder einmal – nicht sehr optimistisch. Die Arbeitslosigkeit werde weiter steigen und die Entwicklung der Neuverschuldung sei „beängstigend“. Bei der Bekämpfung des Budgetdefizits müsse die Reduzierung der Staatsausgaben Priorität vor neuen Steuern haben. Kommt Ihnen auch das bekannt vor? Natürlich, nur ist es nicht von Holger Bonin und auch nicht von 2024. Diese pessimistische Prognose stammt von 2009 und kam damals aus dem Mund von IHS-Chef Bernhard Felderer.
Wenn man ein bisschen in der Geschichte stöbert, stößt man schnell auf Parallelitäten. Der Krieg, von dem anfangs die Rede war, tobte noch näher an unseren Grenzen als die stete, blutige Eroberung der Ukraine durch Russland. Zehn Jahre dauerte der Zerfall des ehemaligen Jugoslawien, von 1991 bis 2001 – dann war einigermaßen Ruhe.
Wir haben schon viele schlechte Zeiten erlebt, und danach wieder bessere. Doch wir wollten ja einen Blick in die unmittelbare Vergangenheit werfen, in das Jahr 2024. Was ist geschehen, das es wert ist zu erwähnen und was wird seine Auswirkungen auch auf die nächsten Monate oder Jahre haben. Sofern sich das überhaupt vorhersagen lässt.
ASIEN
China ist, nach Jahren relativer Stabilität, wieder zu einem unsteten Gesellen geworden. Vor allem für den Nachbarn Taiwan, der sich politisch von seinen Zieheltern nimmer weniger dreinreden lässt. Wie früher in einer Familie, in der die pubertierenden Kindern nicht gehorchen wollen, nimmt der Vater den Stock in die Hand und droht ihnen: „Wenn ihr nicht macht, was wir euch anschaffen, dann gibt es Schläge!“ In der Realität sind es Militärmanöver, die die Regierung in Peking in immer engeren Kreisen um die Insel veranstaltet, ohne freilich bisher einen Schuss abzufeuern.
Taiwan ist weit entfernt, so werden sie vielleicht fragen, was uns das alles angeht? Hier ist eine Antwort: Auf dem Eiland werden die leistungsstärksten Microchips erzeugt, die vor allem für Geräte im Zusammenhang mit Künstlicher Intelligenz verwendet werden – die Zukunftstechnologie schlechthin.
Sollten also die kommunistischen Herrscher in Peking ihre Drohungen in die Tat umsetzen, wäre der Westen fast gänzlich von der Lieferung dieser Mikrochips abgeschnitten. Und dann gäbe es einen klaren Profiteur dieser Aktionen: es ist wiederum China. Freilich muss man hier auch ein großes Aber hinzufügen: würden die USA, die seit Jahrzehnten ihre schützenden Hände über die kapitalistischen Brüder in Taipeh legen, einen chinesischen Überfall auf Taiwan einfach zulassen? Bis zur Wahl von Donald Trump hatte man keinen Zweifel daran, dass Washington diesem Schauspiel nicht unbeteiligt zusehen würde.
Mit Trump an der Macht ist das nun nicht mehr so klar. Wenn man sich allerdings die zahlreichen Milliardäre aus dem Silicon Valley ansieht, die voll und ganz hinter Trump stehen (oder wie Elon Musk manchmal sogar vor ihm), so kommen Zweifel auf, dass die USA bei einer solchen Aktion ihre Hände in den Hosensack stecken lassen würden. Ein Eingreifen der militärisch immer noch stärksten Supermacht könnte auch einen Flächenbrand auslösen, schliesslich haben sich Russland und China gerade in den vergangenen Jahren so eng angenähert, dass ihr Bündnis fast wie ein NATO-Vertrag zu betrachten ist: der Angriff gegen ein Land wird automatisch als Angriff gegen alle Mitgliedsstaaten betrachtet.
Wird sich dieses einigermassen erschreckende Szenario verwirklichen? Ohne zu wissen, wie sich die Regierung Trump gegenüber China verhalten wird, lässt sich diese Frage schwer beantworten. Aus optimistischer Sicht könnte man sagen: keines der beiden Supermächte – und Taiwan schon gar nicht – hat ein Interesse an einem Krieg. Peking weiss zu genau, dass damit auch ein wirtschaftlicher Einbruch auf dem Festland verbunden wäre. Das ist das letzte, was dieses Regime brauchen kann – schliesslich könnte eine Ende des Export-Booms auch politische Unruhen nach sich ziehen, mit unvorhersehbaren Konsequenzen.
RUSSLAND – UKRAINE
Der Krieg geht unvermindert weiter. Der Kreml, oder besser, dessen Hausherr Vladimir Putin – sieht keinen Grund, seine Feldzüge zu beenden. Umso weniger, als er auf immer schwächeren Widerstand durch das ukrainische Heer stößt und immer mehr Quadratkilometer Land an sich reisst. Und doch: der Blutzoll ist hoch. Daran haben auch die nordkoreanischen Truppen nichts ändern können, die den Russen zur Seite gesprungen sind. Auch sie beklagen täglich dutzende tote Soldaten. Alles hängt jetzt – wieder einmal – von Donald Trump ab. (Wie) wird er seine großspurigen Ankündigungen, den Krieg in 24 Stunden zu beenden, umsetzen? Werden die USA die Waffenlieferungen an die Ukraine beenden? Dann könnte der Eroberungs-Feldzug rasch völlig neue Formen annehmen. Kiew und auch die bislang fast völlig verschonten Städte im Westen des Landes wären dann ebenso in Gefahr, selbst ein völliger Zusammenbruch der Regierung um Präsident Wolodymir Selensky ist dann nicht mehr auszuschliessen. Putin hätte gewonnen, auf allen Fronten. Damit würde sich die europäische Vorstellung, die Ukraine als neutralen Staat zu erhalten, sehr rasch in Luft auflösen. Europäische Waffenlieferungen allein könnten das Loch, das fehlende amerikanische Raketen und Munition aufreißen würde, nicht wettmachen. Wie überhaupt Putin sogar ein viel weit reichendes Ziel im Auge haben könnte. Er lässt die Europäer so lange ihr ganzes Arsenal an die Ukraine schicken, bis die Bestände in Frankreich, Deutschland, Italien, Großbritannien und anderen mächtigen NATO-Staaten leer geräumt sind. Wie soll sich Europa dann verteidigen? Natürlich könnten die Länder noch mehr Geld in die Rüstungsproduktion stecken, doch angesichts der andauernden Krise im Bereich der Automobil- und Maschinenbau-Industrie würde das politisch kaum durchzusetzen sein. Trump könnte, mit welchen Überredungskünsten auch immer, einen sofortigen Waffenstillstand erreichen und die Europäer dazu zwingen, ein paar zehntausend Soldaten zur Überwachung der (künstlichen) Grenze in den Osten und Süden der Ukraine zu schicken. Europa würde damit aber auch dazu beitragen, dass Kiew ein Drittel seines Landes verloren gibt. Dass anschliessende Friedensverhandlungen Moskau davon überzeugen würden, die mühsam eroberte Ostukraine (in der ohnehin russisch sprechende und/oder mit Russland sympathisierende Ukrainer leben) zurückzugeben, ist mehr als zweifelhaft.
EUROPA
Neuwahlen des europäischen Parlaments im Juni, eine neue Kommission seit Dezember – Hoffnungen auf eine erstarkte Europäische Union werden sich nicht erfüllen. Im Parlament wurden jene rechten politischen Kräfte gestärkt, die alles andere als ein gemeinsames Europa im Auge haben. Nationalismus, die Keimzelle für die vielen Kriege, die Europa in den vergangenen Jahrhunderten in blutige Schlachten verstrickt hat, dieser Nationalismus findet immer mehr Aufschwung. Gleichzeitig versinken die wichtigsten Träger des europäischen Gedankens, Deutschland und Frankreich (von Großbritannien, das sich mit Brexit und unter einer neuen linken Regierung erst wieder sortieren muss, ganz zu schweigen) in politischen und wirtschaftlichen Krisen. Emmanuele Macron hat sich durch die aus dem Blauen heraus gerufenen Neuwahlen des Parlaments völlig verkalkuliert und kann nur mühsam eine neue Regierung zusammen kitten. Sein wichtigster Nachbar, die Bundesrepublik Deutschland, befindet sich in einer zum Teil selbst verschuldeten wirtschaftlichen Krise, in deren Strudel auch die Ampel-Koalition mit hinein gerissen wurde. Statt dass sich die EU nun auf ihre eigentliche Stärke besinnt und sich als ernsthafter Gegenspieler (oder auch Partner) der neu aufgestellten Vereinigten Staaten von Amerika unter Donald Trump darstellt, gibt’s vorerst einmal business-as-usual. Mehr Einigkeit, ein Ende der (bislang notwendigen) Einstimmigkeit in wichtigen aussenpolitischen Fragen – alles Fehlanzeige. Ungarns Victor Orban, zuletzt auch die Slowakei, zumindest in der Person von Regierungschef Robert Fico, putzen die Klinken im Kreml. Übrig bleiben Polen und interessanterweise die italienische Ministerpräsidentin Georgia Meloni. Sie sind die neuen Bannerträger in der EU und halten die Union einigermassen zusammen. Die deutsch-französische Achse, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs das führende Gespann Europas, wird vor Mitte des nächsten Jahres kaum eine Rolle spielen, wobei Frankreich nach vielen hysterischen Vorhersagen („Die Rechte kommt, die Rechte kommt!“) erst 2027 den eigentlichen Umsturz an der Spitze des Staates zu erwarten hat. Dazu kommen die Klimakrise, deren furchtbare Auswirkungen wir auch hier in Österreich jedes Jahr miterleben, der ständige Fortschritt, den Staaten außerhalb Europas im Bereich der Künstlichen Intelligenz erzielen. All das: keine guten Aussichten für Europa.
NAHER UND MITTLERER OSTEN
Zeichnet sich gerade dort, wo seit Jahrzehnten nur Unruhe herrscht, ein Hoffnungsstreifen ab? Können in Syrien ausgerechnet islamistische Terrorbrüder zu Vorreitern demokratischer Prozesse werden? Andererseits: wenn sich ein in London ausgebildeter Augenarzt zu einem der grausamsten Tyrannen und Folterknechte des Landes entwickelt, wer sagt dann, dass es umgekehrt nicht genauso möglich ist. Zu wenig Zeit ist noch vergangen, um die Entwicklung richtig einschätzen zu können, doch eines ist deutlich geworden: im Nachbarland Iran legen sich die Mullahs jeden Abend mit einem unguten Gefühl schlafen. So wie Bashar al Assad könnten sie eines Morgens aufwachen und zu ihrem Schrecken feststellen, dass die Revolution, die sie vor 45 Jahren eingeleitet haben, ihre Kinder entlassen hat. Derzeit leiden die Iraner ausser an staatlicher Repression hauptsächlich an mangelnder Energie: wenig Benzin, Schlangen bei den Tankstellen, tägliche Stromabschaltungen, die den Wirtschaftsprozess immer mehr in Unordnung bringen. Noch ist die staatliche Überwachung beinahe lückenlos – wie ein Spinnennetz zieht sich die Kontrolle der Revolutionsgarden über das Land. Unter dieser Voraussetzung ist es schwer, eine geordnete Gegnerschaft zu den Machthabern zu organisieren. Ayatollah Chamenei ist mittlerweile 85 Jahre alt, sollte er nicht länger die Fäden in das Hand halten können, ist auch im Iran vieles möglich.
Jerusalem
Für die Palästinenser war 2024 das schlimmste Jahr seit der Nakba, als zehntausende durch die israelische Staatsgründung 1948 aus ihren Häusern vertrieben wurden. Ständiges Bombardement des Gazastreifens und gesperrte Grenzen liess ihnen diesmal keine Fluchtmöglichkeiten. Dass zumindest 30.000 palästinensische Zivilisten getötet wurden, geht nicht zuletzt auf einen Befehl der Regierung Benjamin Netanjahu zurück, wonach Soldaten keine Rücksicht darauf zu nehmen hatten, wenn ein ihnen verdächtiger Hamas-Kämpfer von zwanzig Zivilisten umgeben war. In manchen Fällen, so deckte die „New York Times“ erst kürzlich auf, wurde diese humanitäre Grenze sogar auf mögliche hundert tote Zivilisten ausgedehnt. Weder die Vereinten Nationen, noch der engste Verbündete, die USA, konnten Israel von seinen unverhältnismässigen Kampfhandlungen abhalten. Durch das Trauma von 7. Oktober 2023, als Hamas-Terroristen die Grenzzäune durchbrachen und mehr als tausend israelische Bürger ermordeten und 250 Männer, Frauen und Kinder als Geiseln verschleppten, liess die Regierung Netanjahu alle Schranken fallen. Ähnlich gingen sie mit der Hezbollah im Libanon um, die sich mit ihren Kampfgefährten im Gaza verbündeten und mit ihrem Raketenbeschuss den Norden Israels zu einer No-Go-Zone verwandelte. Trotz aller Bemühungen, einen Waffenstillstand zu verhandeln und die Geiseln frei zu bekommen, ist es bislang zu keinen Fortschritten gekommen. Solange er „Kriegsherr“ ist, das weiss Netanjahu, wird man ihn mit irgendwelchen – in seinen Augen – fadenscheinigen Korruptionsanklagen nicht aus dem Amt jagen können.
USA
Nirgendwo wird der demokratische Machtwechsel derart gravierende Auswirkungen nach sich ziehen wie in den Vereinigten Staaten. Donald Trump, mittlerweile acht Jahre älter und entsprechend ungehemmter als bei seinem ersten Wahlsieg 2016, kündigte schon im Wahlkampf ziemlich genau an, was er im Schilde führt: seinen Gegnern den Prozess zu machen – dazu gehören Justizangehörige, die ihn angeklagt hatten aber auch Mitglieder der demokratischen Partei sowie jene Handvoll von Republikanern, die sich standhaft weigerten, ihn zu unterstützen. Er will Millionen von illegalen Einwanderern gewaltsam aus dem Land schaffen – und nicht nur solche, die gerade im abgelaufenen Jahr über den Rio Grande in die USA geflüchtet waren. Von seinen Drohungen im Bereich der Wirtschaft ganz zu schweigen: Zollerhöhungen sollen die Einfuhr ausländischer Waren so verteuern, dass – so seine Vorstellung – nur noch Produkte „Made in USA“ eingekauft werden. Das würde besonders die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union treffen, die zu den wichtigsten Handelspartnern zählen. Trump wird, ähnlich wie Putin, versuchen, die EU zu spalten und mit einzelnen Ländern (ein Zufall, wenn es nicht die gleichen wären, die jetzt wieder mit dem Kreml-Chef eine engere Bande schmieden…) eigene Deals abzuschliessen, die zum gegenseitigen Vorteil wären. Dann wären da noch Panama und Grönland, denen er kürzlich gedroht hat, sie zurück in den Einflusskreis Washingtons zu holen.
Tritt all das ein, wäre es wenigstens keine Überraschung mehr. Doch wir haben es ja, man kann es nicht oft genug betonen, mit einem völlig irrationalen, um nicht zu sagen: durchgeknallten Machthaber zu tun. Was könnte ihm da noch einfallen, ihm oder seinen milliardenschweren Oligarchen, die alle schon ihre Füsse in die Türe zum Oval Office gestellt haben?
FAZIT
Natürlich gibt es noch Schauplätze, die hier unberücksichtigt worden sind. Bestimmte Länder in Afrika, die schon seit Jahren oder gar Jahrzehnten ihren Bürgern nicht das Notwendigste zum Überleben zur Verfügung stellen oder auch ihre Milizen gegen die eigenen Landsleute hetzen. In Mittel- und Südamerika sieht die Lage für Millionen Menschen trist aus, was sich auch an den Flüchtlingszahlen zeigt, die jedes Jahr an der Grenze zu Nordamerika gemessen werden. Oder, um auch etwas Positives zu erwähnen: Indien mausert sich von Jahr zu Jahr von einem unterentwickelten Dritte-Welt-Land zu einem machtvollen und reichen Industriestaat. Das lässt sich auch an den zahlreichen indischen Touristen ablesen, die in diesen Tagen die Wiener Innenstadt bevölkern.
Jeder Abschnitt der Geschichte hat seine Besonderheiten. Was heute einzigartig erscheint, trat in ähnlicher oder anderer Form schon einmal auf – siehe oben. Viel haben wir jedoch aus der Geschichte nicht gelernt. Auch das nicht: zu Beginn des Jahres 1989 hat niemand damit gerechnet, dass zwölf Monate später die Berliner Mauer gefallen sein wird, dass der Eiserne Vorhang gewaltige Löcher bekam und die Bewohner der Kommunistischen Staaten Osteuropas Ihre Peiniger abgeschüttelt hatten. Das alles passierte, ohne dass ein einziger Schuss gefallen ist. Das – wenigstens das – sollte uns eine klitzekleine Hoffnung geben, wenn wir nun das neue Jahr ansteuern.