Am Sonntag, den 24. November 2024, starb der südafrikanische Dichter und Essayist Breyten Breytenbach im Alter von 84 Jahren in seiner Wahlheimat Frankreich. Er war ein strikter Gegner der Apartheit-Politik, heiratete 1962 eine Französin vietnamesischem Ursprungs und wurde 1975, als er mit einem falschen Pass nach Südafrika zurückkehrte, festgenommen und anschließend zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Danach wurde er nach Frankreich abgeschoben. Erst mit der Aufhebung vieler rassistischer Gesetze (unter anderem auch des „Mixed Marriages Act“) entschloss sich der Dichter, der viele seiner Werke in Afrikaans veröffentlichte, zurück zu reisen.
Als ich im April 1994 die ersten freien Wahlen in Südafrika für den ORF mitverfolgte, wollte ich unbedingt auch mit Breytenbach sprechen. Ich bin ihm damals nachgejagt, diesem südafrikanischen Intellektuellen, Dichter, Maler und Anti-Apartheid-Aktivisten. Mein Aufenthalt in diesem Staat, in dem das weiße Apartheid-Regime durch den schwarzen Regierungschef Nelson Mandela abgelöst werden sollte, durfte nicht ohne ein Gespräch mit Breyten Breytenbach zu Ende gehen. Ich versuchte, mit ihm telefonisch Kontakt aufzunehmen, scheiterte jedoch kläglich. Irgendwie erfuhr ich, dass er sich in einem Hotel in Durban aufhielt, und dort mietete ich mich auch ein. Noch am ersten Abend schob ich ihm einen Zettel mit meiner Interview-Bitte unter die Zimmertür. Die Hartnäckigkeit machte sich belohnt. Er habe wenig Zeit, ließ er mich wissen, doch am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, könne er mich treffen.
Vieles von dem, was er mir damals erzählt hatte, trat tatsächlich ein, in einigen Punkten war er zu pessimistisch. Doch gerade 30 Jahre später erscheint dieses Gespräch besonders faszinierend.
Breyten Breytenbach im April 1994 in Durban, Südafrika (Foto: Eugen Freund)
BB: „Wir versuchen diesem Land den Status eines Nationalstaates
überzustülpen, obwohl Südafrika nie ein Nationalstaat war. Und
das in einer Zeit, in der das übrige Afrika zur Erkenntnis
kommt, dass die Zukunft in der Föderation liegt. Dieses Korsett
wird meiner Ansicht nach einfach nicht passen … Uns allein wird es
nicht gelingen, die Probleme zu lösen, Europa oder die USA werden
uns nicht ausreichend unterstützen. In Polen, in Russland, oder
sonst wo in Afrika, haben sie es nicht getan, also wird es auch
hier nicht eintreten. Wie wird man also all die Erwartungen
erfüllen, in einer Zeit, in der die Townships unregierbar
geworden sind, in einer Zeit, in der alle von Befreiung sprechen
statt von Ausbildung…“
EF: “Ich habe immer den Eindruck gehabt, Südafrika sei ein reiches
Land, nicht nur wegen seiner Bodenschätze, sondern insgesamt,
es ist ja auch nicht überbevölkert …“
BB: “Ich stimme Ihnen zu. Es gibt hier ein ungeheures Potential, in
erster Linie durch die Menschen, die hier leben. Sie haben einen
Erfahrungsschatz, mit einer langen Tradition sich durchzusetzen,
neue Dinge zu schaffen, aber auch Widerstand zu leisten. Es gibt
hier sicher ausreichend Nahrung und ebenso wirtschaftliche
Kraft. Aber wenn sie „reich“ sagen, dann gilt das vor allem für
die ganz Reichen, die Weißen Reichen – die werden noch reicher
werden. Sie haben sich ja auch sehr rasch von der alten
National-Partei abgewendet und sich dem ANC angeschlossen, wie das
die Reichen nun einmal so tun, denen es immer nur um sich selbst
geht. Und die Armen sind auf dem besten Weg ärmer zu
werden. In einigen Teilen des Landes liegt die Arbeitslosigkeit
höher als 60 oder 70 Prozent, Hunderttausende haben kein Dach
über dem Kopf und leben in Hütten am Rande der Groß-Städte.“
EF: “Ein interessanter Aspekt, der Südafrika von anderen Ländern
unterscheidet, die zu Demokratien geworden sind – und ich
beziehe mich jetzt vorwiegend auf die Staaten Osteuropas –
besteht darin, dass diese Länder ihre Politiker losgeworden
sind, bevor der eigentliche Wechsel eingetreten ist. Hier hingegen
sind die gleichen Leute, die selbst oder deren Partei zu den
Unterdrückern gehört haben, nun die Vorkämpfer der Erneuerung
und immer noch im Amt. Wieso?“
BB: “Weil es hier keine demokratische Tradition gibt, hier nie eine
Demokratie gegeben hat. Und ich glaube nicht, dass dieses Land in
absehbarer Zeit eine Demokratie wird. Hier ist ein Tauschhandel
zwischen professionellen Politikern durchgeführt worden, ohne
dass die Bürger daran teilnehmen konnten, ohne Einbeziehung der
Gewerkschaften, von Frauenorganisationen, den Bauern, der Jugend.
Zum ersten Mal in der Geschichte versucht hier ein Land sich
selbst zu schaffen, mit einer neuen Verfassung, neuen Erlässen.
Die neue Regierung wird aller Voraussicht nach die gleichen
Methoden einsetzen, um die Menschen in den Griff zu bekommen. Es
ist also keineswegs überraschend, dass die alten Herren auch
jetzt in diesem neuen System führend mitwirken.
EF: “Der Afrikanische Nationalkongress wird häufig dafür
kritisiert, dass er zu eng mit der Kommunistischen Partei
verflochten ist. Wie lässt sich diese enge Zusammenarbeit
erklären oder rechtfertigen?“
BB: “Man muss mit dem Begriff ‚Kommunismus‘ hier sehr vorsichtig
umgehen. Denn die Rechten versuchen ja, frei nach MacCarthy, alles
als ‚kommunistisch‘ abzutun. Ich würde mich selbst immer noch als
Kommunisten bezeichnen. Aber wenn man sich die Geschichte ansieht,
so war die Kommunistische Partei immer ein Teil der
Befreiungsbewegung, in Vietnam, in Kuba, anderswo. Eigentlich gibt
es keinen ANC, sondern nur eine Südafrikanische Kommunistische
Partei, deren Wurmfortsatz der ANC ist. Die Partei kommt an die
Macht. Genauso wie 1989 80 oder 90 Prozent der Ostdeutschen für
Honecker gestimmt haben – das hat ja auch nicht bedeutet, dass all
diese Menschen Parteimitglieder oder auch nur Unterstützer der
Partei waren. Genauso wird man hier im ANC eine Mehrheitspartei
haben, aber tatsächlich wird es die Südafrikanische
Kommunistische Partei sein. Jede Partei, die etwas auf sich
hält, hat das gleiche Ziel: ohne Verankerung im Volk an die Macht
zu gelangen, indem man sich einer Befreiungsbewegung anschließt.
Ob das jetzt freilich dazu führt, dass nun eine sozusagen
‚kommunistische‘ Lösung für die Probleme Südafrikas angestrebt
wird, lässt sich jetzt noch nicht sagen. An sich rufen die
Bedingungen danach: es könnte in ein paar Jahren eine
tatsächlich revolutionäre Situation eintreten, in der die
Partei…“
EF: „Angesichts der jüngsten Entwicklungen in Osteuropa, wo der
Kommunismus von den Menschen zu Grabe getragen wurde, hört sich
das seltsam an. Warum sollte gerade in Südafrika der Kommunismus
zurück an die Macht kehren?“
BB: „Weil ich glaube, dass ein bestimmter Prozess, der einmal begonnen
hat, auch an sein logisches Ende geführt werden muss: Wir haben
einfach nichts dazugelernt, von niemandem, nicht von Osteuropa,
nicht von Afrika. Ein Sprecher der Kommunistischen Partei würde Ihnen darauf
wahrscheinlich antworten: Die KPSA ist nicht die letzte in einer
Reihe, sondern die erste einer neuen Generation von
Kommunistischen Parteien. Es gibt hier ungeheure Illusionen:
Sehen Sie sich nur die jungen Leute mit den T-Shirts an, auf denen
zu lesen steht: ‚Sozialismus ist die Zukunft‘. Die wirklichen
Probleme des Landes, die Ungleichheit, die soziale Ungerechtigkeit,
all das wird wahrscheinlich nie wirklich gelöst werden, ohne
irgendeine Art von Sozialismus. Aber wenn wir glauben, dass wir
das alte stalinistische Modell wieder auf die Beine stellen
können, dann wird das sehr schwierig werden, lange dauern und
furchtbares Blutvergießen mit sich bringen.“
EF: „Dem ANC wird auch immer wieder vorgeworfen, er behandle die
Inkatha-Bewegung und die Zulus so, wie er selbst früher von den
Weißen behandelt worden ist. Ist an diesem Vorwurf etwas dran?“
BB: „Das ist eine dumme Verallgemeinerung. Der ANC behandelt nicht –
noch nicht – Minderheiten, wie das die in der Minderheit
befindliche Regierung der Nationalpartei mit dem ANC getan hat…“
EF: „…weil der ANC noch nicht an der Macht ist…“
BB: „Nein, auch weil der ANC keine rassistische Vereinigung ist. Nein,
der ANC hat zweifellos die Inkatha dumm behandelt. Hier mangelt es
an Realismus und Verständnis. Die Zulus haben, berechtigt oder
nicht, eine ganz bestimmte Identität. Dieser Bereich des Landes,
in dem wir jetzt sind, die Provinz Natal, ist noch nie erobert
worden. Das muss schließlich berücksichtigt werden … Und das
kann auch territoriale Rechte mit einschließen.“
EF: „Ihre ambivalente Haltung gegenüber dem ANC ist auffallend.
Manchmal habe ich den Eindruck, sie würden sich mit dem ANC
identifizieren, andererseits leben Sie in Paris und haben offenbar
nicht die Absicht, für eine Partei hier in den Ring zu steigen.
Warum eigentlich nicht?“
BB: „Das wäre die schlimmste Form eines Selbstmordes, die vorstellbar
wäre. Das tötet den Verstand. Politiker sind keine menschlichen
Wesen, sie sind Marsmenschen, sie haben sich auf der Erde
niedergelassen, als machtbesessene Wesen, als Kannibalen. Ich würde
niemals in die Politik gehen, ich meine Machtpolitik. Revolution
hat mit Politik nichts zu tun. Revolution hat mit Politik soviel
zu tun wie Dichtung mit Literatur, es ist etwas total anderes.
Revolution heißt: in Frage stellen, heißt eine Metamorphose zu
provozieren, während Politik nichts anderes als der verlängerte
Arm der Machtausübung darstellt, oder so viel wie möglich
so schnell wie möglich runterzuschlingen, oder Menschen
zu manipulieren; oder den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden,
oder Kompromisse zu finden, deshalb haben wir auch eine solche
Fahne, das scheußlichste, was man sich vorstellen kann. Deshalb
haben wir auch eine Verfassung, in der direkte Demokratie
überhaupt nicht verankert ist. Man wird nicht einmal wissen, wer
der zuständige Parlamentsabgeordnete ist, auf dem man zugehen
kann, um ihm zu sagen, was in seinem Wahlbezirk falsch gemacht
wird; er ist nämlich ein Parteimitglied. Wir wählen hier für
eine Partei. Die Politiker haben Maßnahmen getroffen, um weiter
zu essen und zu stehlen wie seit vielen Jahren. Natürlich kann
man sagen: mach mit – aber diese Absicht habe ich nicht.
Ich bedaure nicht einen Moment, was ich getan habe, mich
eingesetzt zu haben. Es gibt keine Entschuldigung dafür, dass
sich ein Schriftsteller oder Künstler für politischen Aktivismus
einsetzt, in einer kriegsähnlichen Situation, wenn man eine
Partei bekämpft oder eine faschistische Regierung, wie wir sie
früher gehabt haben. Jetzt müssen die Künstler besonders
kritisch den Entwicklungen gegenüberstehen und dabei völlig
unabhängig vom politischen Establishment sein. Wir müssen es
Schritt für Schritt bekämpfen. Das einzige Geschenk, das wir dem
ANC machen können, ist ihn in jeder Phase zu bekämpfen. Der ANC
ist ein Parteiapparat, ein Machtapparat, ein Apparat von und
für Politiker und muss – wie andere politische Organisationen
auch sonst in der Welt – bekämpft werden. Wir können uns nicht
leisten, Anhängsel oder Unterorganisationen eines politischen
Systems zu werden. Wenn uns das gelingt, können wir uns
vielleicht ein wenig diesem weit entfernten Ziel annähern, das da
heißt: Demokratie in Südafrika.“
EF: „Wie wird Südafrika in, sagen wir, fünf Jahren aussehen?“
BB: „Ich fürchte – und ich betone ausdrücklich – ich fürchte, dass in fünf Jahren hier das Blut fließen wird, hier wird Bürgerkrieg herrschen, das Land wird sich in Auflösung befinden. Unsere Staatsmänner haben aus der Geschichte nichts gelernt. Niemand, kein einziger…“
EF: „Auch Mandela nicht?“
BB: „Nein, auch er nicht. Mandela ist der Führer einer Mehrheit. Es ist seine historische Aufgabe, diese Mehrheit zu befreien und ihr zur Macht zu verhelfen. Und das wird er erreichen. Ich ziehe meinen Hut vor ihm. Ich bewundere ihn außerordentlich, seinen Mut. Aber er hat auch nichts gelernt … es geht um die Kreativität, darum, ein völlig neues Südafrika zu gestalten und das wird nicht gelingen.“